Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 46


Der Weg zu den Baracken stellte sich als recht kurz heraus, was bei der beschränkten Ausbreitung der Stadt nicht hätte verwundern sollen. Sie bemerkten kaum, dass die Dämmerung einsetzte so abgelenkt waren sie vom Anblick der schönen, weißen Häuser, die die Straße säumten. Bis auf ein paar Säulen und schön gestaltete Giebel, wirkten sie an sich schlicht, wenn da nicht die riesigen Fenster gewesen wären, die mal mit Bogen versehen, mal spitz zulaufend oder auch ganz rechteckig weite Teile der Wände ersetzten. Viele schienen bemalt zu sein, obwohl sie die vielen Farben erst erkennen konnten, als die Straßenbeleuchtung langsam das verschwindende Sonnenlicht zu ersetzen begann und sie damit an die Tageszeit erinnerte.

Auch die Baracken waren nicht das, was sie bei dem Namen erwartet hatten. Es handelte sich tatsächlich um lange Gebäude, gedacht für die Unterbringung von Wächtern und Soldaten, aber wie der Rest der Stadt waren auch sie weiß und voller Fenster.
Als sie hinter der Kasernenmauer die Kutsche verließen, konnten sie einander ansehen, dass der Tag anstrengend gewesen war, obwohl sie fast nur herumgesessen hatten. All die neuen Eindrücke und Informationen, gepaart mit den mageren Eilebroten, auf denen sie im Ornithopter herumgekaut hatten, forderten ihren Tribut. Deswegen brachten sie auch keinen Widerstand auf, als sie von zwei Wächtern in hellblauen Uniformjacken, enganliegenden, weißen Hosen und schwarzen Stiefeletten in die Messe geführt wurden, wo man ihnen etwas vorsetzte, dass einer der Männer als Sidam Muvek bezeichnete:
"Bisamrattenfleisch in Milch mit ein paar scharfen Kräutern und Gewürzen verfeinert. Dazu Reis und Dalli."
Reis kannten sie von ein paar naitharischen Köchen, die erfolglos ihr Essen in Xpoch anboten, und Dalli stellte sich als ein sehr dunkles Bier heraus. Ihre Nasen sagten ihnen jedoch, dass das "verfeinert" eventuell tränentreibend sein konnte.
Trotzdem griffen sie herzhaft zu, und auch wenn sie sich gelegentlich Luft zufächerten und reichlich dem Dalli zusprachen, um die Schärfe fortzuspülen, war es vielleicht das beste Essen das sie seit langem, wenn nicht jemals zu sich genommen hatten. Selbst Wintur konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, auch wenn er das Amüsement der Wächter etwas störend fand.

Und die Betten ... Tis wusste nicht, wie die Betten beim xpochschen Militär waren, aber er konnte nicht behaupten, dass es viele Betten gab, in denen er besser gelegen hätte, was vielleicht daran lag, dass er viel zu oft in seinem Leben auf der Erde geschlafen hatte.
Nur der Morgenapell, dem auch ihr Schlaf zum Opfer fiel, senkte in ihren Augen die Qualität ihrer Unterkunft beträchtlich.
"Knappe zweiter Ordnung Yellion. Ich bin ihnen für den heutigen Tag als Begleitung zugewiesen. Ich wurde angehalten, sie darauf hinzuweisen, dass sie sich in einem gewissen Rahmen frei in der Stadt bewegen können. Ich darf ihnen einige Fragen beantworten."
"Müssen wir antreten?"
"Nein, wenn sie es müssten, wären sie bereits zu spät dran, was empfindliche Strafen nach sich ziehen würde."
"Was‘n Glück."
"Was gibt's zum Frühstück?"
"Brot und Käse. Die übliche Mahlzeit. Allerdings wurde mir aufgetragen, mit ihnen im Zimmer zu bleiben, bis die Messe wieder frei ist."
Und so warteten sie. Sich frisch zu machen dauerte zwar einen Moment, nahm aber bei weiten nicht die Zeit ein, die sie benötigt hätten, um der Langeweile zu entgehen. Dieser war es auch geschuldet, dass Tiscio auch dem Wächter die Frage stellte, die ihn die ganze Zeit umtrieb: "Herr Yellion, wie ist das hier eigentlich mit der Religion? Sie glauben an was anderes als wir, oder?"
"Sie meinen, den Vergöttlichten Stab? Ja, da glaube ich dran, wie die meisten. Und warum auch nicht. Immerhin ist es nachgewiesen, dass die Priester des Vergöttlichten Stabs von ihm mit seinem Segen belegt werden, um auf seine Macht zugreifen zu können."
"Sie meine, sie können zaubern?"
"Nein! Zauberei ist ein Handwerk, bestenfalls noch ein Studium. Der Segen des Vergöttlichten Stabes ist ein weiterleiten der heiligen Energie durch den Priester."
"Vilet hat es Zaubern genannt, oder Tis?"
"Ich denk‘ schon."
"Ist das eine ihrer Priesterinnen?"
"Naja, nein, eigentlich nicht."
"Aber ich kann verstehen, dass Menschen von der Küste ein Problem mit unserer Religion haben. Immerhin ist der Glaube an ihren Gott doch recht unnütz, unsinnig und vielleicht sogar häretisch."
"Hey, sie müssen ja nicht gleich beleidigend werden."
"Und wir sind gar nicht von der Küste."
"Entschuldigung, Ich wollte sie nicht beleidigen, aber man muss doch einsehen, dass ein Gott, der seine Macht nicht an seine Gläubigen weitergibt, kaum verehrungswürdig ist."
"Das hat nichts mit der Weitergabe von Macht, sondern mit dem Glauben zu tun", mischte sich Wintur ein, der eine so wichtige, religiöse Frage nicht den Jugendlichen überlassen wollte. "Hetrados prüft die seinen. Es ist leicht an etwas zu glauben, dass einen pausenlos beschenkt. Das macht den Stab nicht besser als einen Dämon. Und wir kennen [Dämonen] in Xpoch."
"Mhm. Ich halte wohl besser meinen Mund. Ich wollte sie wirklich nicht beleidigen. Manchmal plappere ich so vor mich hin. Entschuldigung." Während er seinen Blick zur Tür wandte, funkelte Wintur ihn weiter an, ohne zu bemerken, dass seinen Schutzbefohlenen seine theologische Argumentation ebenfalls nicht ganz überzeugend war.
Also wurde erneut geschwiegen, bis der Lärm auf dem Gang nachließ und der Knappe einen Schritt auf die Tür zu machte.
"Werden sie später ein Ritter?"
Yellion drehte sich um, Unverständnis nicht nur im Gesicht, sondern auch am ganzen Körper.
"Wieso sollte ich ein Ritter werden?"
"Sie sind ein Knappe, da wird man doch später Ritter."
"Oh, das. Es ist nur mein Rang in der Stadtwache. Um Ritter zu werden müsste ich mich einem Orden anschließen. Oder schlimmer noch, mich einem Adligen verschreiben."
"Aber warum Knappe?"
Der Wächter zog nur die Schultern hoch und öffnete die Tür in einen neuen Tag.

"Das sieht groß aus."
"Es sieht nicht nur so aus. Das ist vermutlich das größte Gebäude in Torath. Das Parlament der Hügelstätte."
"Der Regierungssitz der Hügelstätte", ergänzte Gunnar, "ein wenig wie der Kronrat, nur nicht vom König eingesetzt."
"Wie soll das denn funktionieren?"
"Wie der Stadtrat von Xpoch."
"Das heißt lauter Pfeffersäcke, die sich da eingekauft haben?"
"Was meinen sie mit Pfeffersäcken?"
"Na, Reiche, Händler, solche halt."
Der Wächter überlegte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf. "Ein paar haben sich vielleicht den Sitz gekauft, aber nicht im Parlament, sondern in ihrer Provinz. Da hat jede ihre eigene Methode. Einige schicken den Erbadligen aus einer Familie, die dort schon ewig herrscht, andere wählen oder bestimmen jemanden. Ganz unterschiedlich."
"Und die bestimmen über das, was die [Hügelstätte] machen?"
"Im Grunde ja. Da gibt’s noch Instanzen ..."
"Und was ist das da drüben?"
Die Augen des Knappen folgten Tiscios Finger, der auf einen Turm zeigte, der neben dem Gebäude in den Himmel ragte, aber viel zu schmal war, um irgendwelche Räume enthalten zu können. Wahrscheinlicher war, dass nicht einmal eine Treppe darin Platz fand.
"Das? Äh, ... der Turm des Parlaments." Es schwang die Andeutung einer Frage in der Antwort mit, die den Hügelstättern verriet, dass der Mann ihnen den wichtigen Teil nicht mitteilen wollte. Daher beließen sie es dabei und, gezogen von Tiscio, der wenig Interesse an dem politischen System der [Hügelstätte] zu finden schien, setzten sie ihre Sightseeing-Tour fort, bis ein Läufer sie am Ende der langen Allee auflauerte.
"Magister Therond schickt mich. Ich soll die Xpochler zur Akademie bringen."
"Dann sollten wir uns dorthin begeben."
"Mein Befehl lautet, nur die Xpochler zu bringen. Du sollst ihre Ausrüstung zum Landeplatz schaffen."
"Dann ... Es war mir ... Es war eine lehrreiche Begegnung. Ich vermute, dass wir uns nicht wiedersehen werden. Ich weiß nicht, was sie tun müssen, aber trotzdem wünsche ich ihnen alles Glück der Welt und, selbst wenn es ihnen vielleicht nichts bedeuten mag, den Schutz des vergöttlichten Stabs." Damit verbeugte sich der Knappe. Er wartete nur kurz, bevor er davonlief, aber lang genug, um die Verbeugungen seiner Geäste würdigen zu können.
Als wäre sein Abgang das Zeichen gewesen, nahm der Tag, der bisher so gemütlich gewesen war, an Geschwindigkeit auf. Der Läufer schlug einen strammen Gang an, den die beiden Bertis kannten und lange durchhalten konnten, nachdem jedoch niemand zurückblieb, begann er in einen langsamen Trab zu verfallen, so dass sie keuchend bei der Akademie ankamen.

Der Botschafter erwartete sie bereits vor dem Portal. Als er sie entdeckte warf er einen Blick auf seine Taschenuhr und hielt ihnen die Tür zu der magischen Kutsche auf, die auf sie zu warten schien. Mit einem "gut gemacht" schnipste er dem Boten ein Geldstück zu und folgte den vieren in das Gefährt, wo er kurz gegen das Verdeck klopfte.
"Geht's los?" frage Malandro.
"Ja, Herr Sabrecht, ‚es geht los‘, wie sie es ausdrücken."
"Wo sind sie hingeflogen?"
"Wir wissen es nicht genau, aber wir haben eine Richtung und können ihnen folgen."
"Magie?"
Daraufhin zeigte der [Hügelstätter] ihnen einen gläsernen Kompass, dessen Nadel beständig in eine Richtung wies, die nicht Norden sein konnte. "Sie ziehen immer noch nach Südosten, nun aber eher nach Süden als nach Osten."
"Und? Können wir sie einholen?"
"Ich hoffe es wohl. Ich habe einige Vorbereitungen treffen lassen. Aber garantieren kann uns das niemand, da wir nicht wissen, wie viel Zeit uns für die Verfolgung bleibt. Wir sind immerhin drei Tage im Verzug."
"Also wieder in die Luft?"
"Sehr genau. wir werden noch einen Piloten mitnehmen, sind aber ansonsten auf uns gestellt. Wie ich bereits sagte, ich fürchte, die Vorfälle um die Feste haben mich ein wenig paranoid werden lassen und ich traue aus dem Luftdienst niemandem mehr."
"Mhm, ich erwähne es ja nur ungerne, aber ich glaube, dass wir kaum gegen die SLDler bestehen können und sie sind auch noch in der Überzahl."
"Außerdem ... die Oravahler. Da wissen wir auch nicht, was mit ihnen ist."
"Ich habe hoffentlich ausreichend vorgesorgt, auf dass es nicht zu einem Kampf kommen muss. Außerdem werden meine Kollegen versuchen, weitere Ressourcen frei zu machen, die uns gegebenenfalls unterstützen können."
"Hoffentlich nicht wie die Ornis bei der Feste."
"Malen sie Mahrl nicht an die Wand."
"Wen?"
"Ach, ich vergaß, dass ihre Mythen auch andere Formen der Sprichworte bedingen. Mahrl ist eine Sagengestalt, der [Götter] getötet haben soll,"
"Weswegen es keine mehr gibt?"
"Nein, er war Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende früher."
"Was für eine verrückte Religion, in der einfach [Götter] getötet werden können."
"Schaut euch das an", mischte sich Gunnar ein, der die ganze Zeit versucht hatte, einen Blick auf das Flugfeld zu erhaschen. Erst kurz bevor sie es endlich erreichten, erblickte er das Objekt seiner Begierde und es verschlug ihm den Atem.
Was dort stand war kein Ornithopter wie er sie kannte. Die zwei, in denen er bisher geflogen war und auch diejenigen, mit denen der PTM und der Schamane gekommen waren, waren elegante Metallvögel gewesen, verziert mit eleganten Schwüngen und schön geformten Fenster. Von ihrer Eleganz hätte man sie gerne mit Schwänen verglichen, wenn ihre Hälse nicht so kurz gewesen wären.
Was dort stand war ein Jagdfalke. Eine Schnauze wie ein scharfer Schnabel, niedrig und Windschnittig, die Schönheit betont von den fehlenden Schnörkeln. Selbst die Flügel schienen eine andere Form zu besitzen, auch wenn dies im angelegten Zustand schlecht zu beurteilen war.
Der Innenausbau hingegen war enttäuschend. Bis auf die beiden Sitze für Pilot und Copilot (welchen Kol Therond sofort besetzte) waren nur noch vier Kissen unter Gurten verteilt. Es gab keine weitere Bestuhlung, keine Möglichkeit seine Sachen zu lagern und nicht einmal eine Verschalung, die die Mechanik verdeckt hätte.
Die Jungs sahen sich verwirrt mit eingezogenem Kopf um, nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte. Als der Pilot jedoch das Zeichen zum Anschnallen gab, suchte sich jeder von ihnen ein paar Gurte, verstaute seine Ausrüstung und befestigte sich selbst an der Wand.
Kaum war das letzte klicken ertönt, hob der Ornithopter ab. Was die Xpochler bisher noch nicht gewusst hatten, gab es verschiedene Arten diese Gefährte zu fliegen. Bis zu diesem Moment hatten sie die personenfreundlichen Weise kennengelernt. Der neue Pilot, ein gewisser Heldri Urifn, hatte jedoch die Anweisung erhalten, keinerlei Rücksicht auf das Wohlbefinden seiner Passagiere zu nehmen und dementsprechend fiel sein Start aus. Die Kammer hob sich schneller als die Mägen und auch die Gehirne der Xpochler ihr folgen konnten, erstaunlicherweise verlor jedoch niemand sein Frühstück oder irgendeinen andern Mageninhalt bei diesem Vorgang. Auch die sich direkt anschließende Kurve und die dabei immer größer werdende Geschwindigkeit verursachten zwar Unbehagen, aber keine größeren Probleme.
Anscheinend waren sie inzwischen gut genug an das ständige Fliegen gewöhnt, dass sie diesen Flug nur als ein weiteres etwas unangenehmes Erlebnis auf der Jagd nach den Oravahlern abhaken konnten.
"Könnte ich vielleicht auch einmal fliegen." Gunnar war der erste, der wieder zu sprechen begann. Wintur, der gewohnt war, auf kleine Veränderungen im Verhalten anderer zu achten, beobachtete, wie sich die Schultern des Piloten anspannten.
"Nein", war alles, was er schließlich herausknurrte.
Als er das hörte, grinste Tiscio Malandro an, schloss dann aber die Augen und versuchte zu schlafen.
"Nur einmal, Ich fliege auch keine Kurven."
"Nein!" Dieses Mal klang der Pilot bereits etwas aufgebrachter.
Deswegen betrachtete Gunnar die Röhren, die den Fluss der Energie steuerten, sowie die Mechanik, die den Flügelschlag und die Steuerung ermöglichte.
"Herr Canil, ich möchte sie etwas Fragen."
Gerade der Angesprochene war der letzte, der sich Wintur zuwandte.
"Mhm?"
"Ich konnte in den letzten Tagen nicht verhindern, einige ihrer Worte zu überhören. Ich habe den Eindruck, dass sie despektierliche Gedanken hegen."
"Was?" schien die natürliche Reaktion auf das gestelzte Kauderwelsch zu sein, aber eigentlich war er sich sehr sicher, auf was Wintur hinauswollte.
"Ihr Herz scheint nicht mehr bei ihrer Berufung zu sein."
"Und?" platzte es so heftig aus Tiscio heraus, dass sogar Malandro sich genötigt sah, einen Kommentar dazu zu abzugeben. "Sei nicht so Tis. Es is' nicht so, dass man es dir nicht ansieht." Zuerst funkelte Tiscio seinen Freund an, senkte dann aber den Kopf.
"Ist es so, Herr Canil, dass sie Zweifel an ihrer Arbeit bei der Metrowacht haben?"
"Nein! ... Vielleicht. Ich weiß es nicht."
"Dann verschaffen sie sich bitte Klarheit, bis wir zurück in Xpoch sind."
"Das versuche ich gerade." Die Worte hätten patzig klingen können, der Tonfall war jedoch nur kleinlaut. Wintur nickte dazu und schrieb etwas in ein Buch, dass er gelegentlich hervorzog.
"Ich bin bestimmt ganz Vorsichtig, Herr Urifn", unterbrach Gunnar erneut die aufziehende Stille. Dieses Mal antwortete der Pilot jedoch nicht direkt, sondern wandte sich an Kol Therond.
"Herr Magister, wenn er nicht langsam die Klappe hält, dann lande ich in irgendeinem Gebüsch und fliege nicht weiter."
Der Blick, den er Gunnar zuwarf, veranlasste den jungen Erfinder fürs erste nach einer anderen Beschäftigung zu suchen.
"Ich sehe was, was du nicht siehst, irgendwer?"

Die Jungen aus der Feldstrasse