Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 16


Endlich machten sich die drei auf den Weg zur letzten Verabredung des Tages. In der Walkriede bestellten sie sich ihr Bier und versuchten die Wartezeit mit unsinnigem Gerede zu überbrücken. Den Vogel schoss dabei Malandro ab, der vorschlug, einfach alles auszusitzen und darauf zu warten, dass jemand mit dem Horn auftauchte, um ihn dann gefangen zu nehmen. Die beiden anderen lachten herzlich, waren sich anschließend jedoch nicht sicher, ob er es nicht vielleicht doch ernst gemeint hatte.
Die Zeit verstrich und sie klammerten sich an ihren Bieren fest, bis der Gong sieben schlug. Linnbeth war immer noch nicht erschienen. Auch um halb acht, als die Gläser vor ihnen noch den letzten Tropfen preisgegeben hatten, war nichts von ihr zu sehen und Tiscio entschied, sich an diesem Abend früh ins Bett zu begeben. Gunnar und Malandro entschieden, noch einen Moment länger zu warten, was für Malandro den angenehmen Nebeneffekt hatte, das sein jüngerer Freund ihm einen Ausgab.
Aber auch diese Gläser standen schließlich leer vor ihnen und sie verabschiedeten sich voneinander.
Vor ein paar Jahren hätte der Alkohol Gunnar noch zugesetzt, aber inzwischen war er schlimmeres gewöhnt. Er legte den Weg in die Zirklergasse in einer guten Zeit zurück und dachte sich nichts dabei, als im ganzen Haus noch Licht brannte, bis er in die Stube kam.
Auf einem Stuhl gegenüber der Tür saß seine Mutter. Sie hatte offensichtlich geweint, hielt sich jedoch aufrecht und versuchte tapfer zu sein. Sie wurde von zwei vermummten Gestalten flankiert. Der zu ihrer Linken hielt ein großes Messer in einer Weise, die verdeutlichte, dass er sie nicht direkt bedrohte, aber jederzeit seine Waffe ihrem Zweck zuführen konnte.
Über dem Arm des anderen lag eine kleine Handarmbrust, gespannt und mit aufgelegtem Bolzen. Zusammen machten sie den Eindruck, dass sie versuchten, nicht zu bedrohlich zu wirken, aber keine große Lust verspürten, diesen Eindruck lange aufrechterhalten zu wollen.
Tiscio hätte diese Situation an eine andere vor zwei Jahren erinnert. Damals waren die Angreifer jedoch eindeutig Xpochler gewesen. Die dunklere Haut um die Augen herum, ließ Gunnar hingegen darauf schließen, dass sie aus einer der Kolonien stammten.
"Sie sind Gunnar van der Linden?" fragte der Eindringling mit der Armbrust. Gunnar konnte nur nicken. Innerlich verfluchte er, dass sein Vater niemals bessere Schlösser erfunden hatte. Dann verwünschte er sich, weil er seinen eigenen Ahnungen nie folgte, und keine der vielen kleinen Waffen aus dem hinteren Schuppen bei sich trug. Letztlich biss er jedoch die Zähne zusammen, denn er wusste genau, dass er seine Mutter niemals in Gefahr bringen würde, indem er die Einbrecher angriff.
"Was wissen sie über den Mord an Professor Ulfhaus?" Die Frage überraschte ihn und er fragte sich, was er preisgeben konnte, ohne sein eigenes Leben zu gefährden. Waren dies die Mörder des Professors? Wollten sie ihn und alle, die an dem Fall arbeiteten, umbringen, um ihre Spuren zu verwischen? Aber nein, das war kompletter Unsinn. Dann hätten sie bald die halbe Metrowacht ermorden müssen.
"Er wurde nicht mit dem Briefbeschwerer getötet." Dabei versuchte er erneut einen Blick auf das Messer zu erhaschen, welches jedoch nicht Unterschnitts Beschreibung der Tatwaffe entsprach.
"Und wir vermuten, dass er etwas gesucht hat, etwas wertvolles, weswegen er ermordet wurde. Vermutlich hat er Zuviel herausbekommen."
Der Armbrustträger nickte dem anderen zu und sie zogen die Tücher herunter. Wie Gunnar vermutet hatte, waren unter ihren Vorfahren nicht zu wenig Darndianer gewesen. Die Mandelaugen hätten es ihm eigentlich gleich verraten müssen. Aber er konnte nicht leugnen, dass selbst er nicht geradeaus dachte, wenn man seine Familie bedrohte.
"Es tut uns leid, uns auf diese Weise in ihr Leben zu drängen, aber wir mussten sicher sein, dass sie der sind, den wir suchen."
"Sie hätten mich einfach fragen können!" Zu seiner eigenen Überraschung schrie Gunnar fast.
"Wir haben leider feststellen müssen, dass wir nicht jedem trauen können, wenn wir kein Druckmittel besitzen."
"Und jetzt soll ich ihnen trauen?"
"Nicht, ohne dass wir ihnen entgegengekommen sind. Mein Name ist Gillin Kofa und mein Kommilitone und ich wollen mit ihnen zusammenarbeiten."
"An der Aufklärung des Mordes?"
"Der Mord ist ohne Bedeutung. Viel wichtiger ist das, wonach er geforscht hat." Das war der Moment, in dem Gunnar entschied, dass er Gillin nicht leiden konnte. Seine Geringschätzung des Lebens gefiel ihm nicht und außerdem war er zu glatt rasiert, zu schmal, zu hübsch und, auch wenn es Gunnar ein wenig peinlich war, zu weibisch.
"Für uns ist der Mord wichtig. Aber woher wissen sie von dem, woran er gearbeitet hat?"
"Wir hatten ihn damit beauftragt."
"Mit was genau hatten sie ihn beauftragt? Zeigen sie mir, warum ich ihnen vertrauen soll."
"Er sollte für uns das Horn des ersten Königs von Xpoch finden."
"Dann hatten wir Recht! Aber woher weiß ich, dass sie ihn nicht umgebracht haben, nachdem er ihnen alles nötige erzählt hat?"
"Ich kann es ihnen natürlich nicht beweisen, aber es ist leider so, dass er uns seine Ergebnisse nicht übermittelt hat. Wir hatten durchaus ein Interesse an seinem weiteren Überleben. Außerdem wäre es sinnlos für uns, uns mit ihnen in Verbindung zu setzen, wenn wir den Aufenthaltsort des Horns bereits kennen würden."
"Aber es könnte doch auch genauso gut sein, dass sie über mich versuchen, ihn herauszubekommen."
"Das Risiko müssen sei eingehen, wenn wir zusammenarbeiten wollen. Unsere einzige Sorge ist es, Lapisis Via daran zu hindern, das Horn in die Finger zu bekommen."
"Die oravahlische Terrororganisation?"
"Sie würden sich als Freiheitskämpfer betrachten."
Natürlich war dies die andere Seite der Medaille, die immer gerne von jenen angeführt wurde, die versuchten, Verständnis für die andere Seite zu zeigen. Aus dem Mund eines Darndianers wirkte es jedoch mehr als fehl am Platz. Die tausend Inseln der Darndianen hatten Jahrhunderte unter der Unterdrückung der oravahlischen Besatzer gelitten und waren erst nach dem Krieg zwischen dem Königreich Xpoch und der Republik Oravahl in etwas ähnliches wie Freiheit entlassen worden. Sie galten immer noch als Kolonie des Königreiches, besaßen aber weitgehende Autonomie und die Besatzungsmacht beschränkte sich auf ein paar kleine Stützpunkte in der Nähe der wichtigsten Handelsorte. Trotzdem war der darndianische Widerstand übergangslos von seinem Kampf gegen Oravahl zu einem Kampf gegen Xpoch übergegangen. Für die Menschen des Königreiches bestand daher kaum ein Unterschied zwischen den Terroristen der Republik und denen von den fernen Inseln.
Mit diesen Gedanken drängte sich Gunnar auch schnell eine Erkenntnis über die beiden Eindringlinge auf:
"Sie gehören zum Roten Edikt."
Weder würdigte Gillin Gunnars Worte mit einer Regung noch mit einem Wort. Stattdessen winkte er seinem Kollegen, ihm nach draußen zu folgen. Er blieb noch einmal kurz neben Gunnar stehen und raunte: "Wir melden uns wieder und versuchen ihnen alles zukommen zu lassen, was wir herausfinden. Wir erwarten jedoch, dass sie ebenfalls ihre Erkenntnisse mitteilen."
Gunnar erwiderte nichts. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er Mitgliedern der darndianischen Separatisten trauen konnte, ob er es überhaupt wollte, nachdem sie seine Mutter überfallen hatten. Stattdessen wartete er ab, bis die Tür hinter den beiden ungebetenen Besuchern ins Schloss fiel, und holte den Schnüffler aus der Werkstatt. An den Stellen, wo die beiden gestanden hatten, nahm er zwei Geruchsproben und verließ gleich darauf das Haus.
Das Adrenalin pumpte immer noch durch seine Adern. Es ließ ihn aber auch vorsichtig sein, weswegen er nicht sofort versuchen wollte, den beiden zu folgen. Stattdessen ging er ein letztes Mal an diesem Tag zur Konditorgasse und holte Malandro aus dem Bett. Soldrang, der zu diesem Zeitpunkt der einzige zu sein schien, der noch im Haus die nötigen Arbeiten verrichtete, sah schon nicht mehr ganz so geschniegelt wie sonst aus, gerade so, als hätte er bereits sein Steifes Hemd gegen bequemere Kleidung ausgetauscht gehabt, um sich nur schnell seinen ordentlichen Rock überzuwerfen, um den späten, unverhofften Gast abzuweisen.
Auch Malandro war nicht begeistert von Gunnars Ankunft, beruhigte sich aber schnell, sobald Gunnar von den neusten Ereignissen berichtete. Allerdings konnte er auch nicht mehr tun, als ihn wieder nach Hause zu schicken, nachdem er ihm die klar gemacht hatte, dass sie an diesem Abend nichts mehr tun können würden.

Erst als seine Mutter den Verband um seine Hände wechselte und ihm dazu einen heißen Panas servierte, setzte Gunnars Verstand wieder ein und er begriff, dass ihr Bedürfnis für ein Gespräch mindestens genauso groß gewesen wäre, wie das seine.

Die Jungen aus der Feldstrasse