Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 12


Sie hatten sich nicht abgesprochen, trotzdem trafen Tiscio und Gunnar fast gleichzeitig an der Tür zur Konditorgasse 23a ein. Tis war bereits bei der Wache gewesen, um seinen versäumten Tagesbericht abzugeben und die Instruktionen für den Tag in Empfang zu nehmen. Gunnar hingegen früh aufgewacht und aus dem Haus gestürmt, um Gesicht und Nacken unter die Pumpe zu halten. Während des Pumpens waren die Kratzwunden an seinen Händen aufgesprungen und Gunnar hatte sich gewundert, wie er sich solche Verletzungen im Schlaf hatte zufügen können, ohne auch nur einmal wach zu werden. Seine Mutter hatte ihm wenig später die Talksalbe auf alle wunden Stellen geschmiert. Es war ihre persönliche Mixtur, von der sie behauptete, dass ihr verstorbener Gatte ohne sie am ganzen Körper mit Brandwunden bedeckt gewesen wäre. Gunnar erinnerte sich gut daran, wie oft er sich beim Klamüsern mit den Maschinen verbrüht hatte.
Zusätzlich hatte Frau van der Linden seine Hände in dicke Verbände gesteckt, damit er sich nicht mehr Kratzen konnte, was er sehr bedauerte. Es juckte bannig und er konnte kaum seine Finger bewegen. Deswegen war er auch nicht in die Universität gegangen, denn dort hätte er kaum Notizen nehmen können. Außerdem brauchte er diesen Spott nicht auch noch. Ihm reichte schon aus, was seine Freunde sagen würden. Trotzdem war es besser hier draußen zu sein, als sich von seiner Mutter betüddeln zu lassen.
"Meine Güte, was ist denn mit dir passiert? Und ich dachte, du kommst nur mit ‘nem Sommerschnupfen nieder." Zu Gunnars Überraschung klang Tiscio ehrlich besorgt.
"Bin ausgefahren." Mehr war er nicht bereit preiszugeben. Jeder wusste, dass man nicht zu lange in der Sonne sitzen sollte. Als Xpochler lernte man jedoch noch früher, dass man nicht in das Wasser des Gresgorgrabens fasste.
"Ich hab‘s dir gesagt, dass nichts Gutes von einem Dampfwagen auf zwei Rädern kommen würde."
"Meine Maschine läuft großartig. Danke auch."
"Dass sie funktioniert, habe ich nie angezweifelt." Zumindest nicht mehr seit Mal und Tis ihn zum ersten Mal damit hatten fahren sehen. Zuvor hatten die beiden Feldstraßlern Gunnars Behauptungen, dass er auch schon ein Erfinder sei, für reine Prötjerei gehalten. Trotzdem hatte sich noch keiner von ihnen getraut, Gunnars Angebot anzunehmen und mit ihm mitzufahren.
"Es ist auch nichts auf der Fahrt passiert. Das ist nur ein Sonnenbrand." Der Wachtmeisteranwärter warf einen ausführlichen Blick auf die Hände, schwieg jedoch, bis die Tür geöffnet wurde.
"Morgen, ihr Nutnasen", grinste Malandro seine Freunde an. Wie er es geschafft hatte, vor Soldrang an der Tür zu sein, verriet er nicht. "Du siehst ja gut aus, Gunnar." Der Angesprochene verdrehte die Augen und antwortete mit einer Gegenfragen. "Tis hat mir noch nicht erzählt, was ihr gestern erreicht habt."
"Ich habe zwei Briefe befreit", verkündete Malandro stolz während seine Freunde das Haus betraten. Tiscio drehte sich zu ihm um und fragte: "Und? Hat Herr Unterschnitt schon etwas herausbekommen?"
"Noch nicht. Gestern hatte er keine Zeit mehr. Aber er hat sich für heute Vormittag eine Stunde freigeschaufelt. Ihr könnt noch kurz mit in die Küche kommen. Lange werden wir aber nicht mehr warten müssen."
"Dann kann ich euch ja noch vorher von meiner Idee erzählen."
"Tis? Du hast eine Idee?" Für einen Augenblick kam der alte Tiscio wieder zum Vorschein und boxte dem angehenden Magier gegen die Brust. Inzwischen hatte er sich jedoch gut genug unter Kontrolle, dass sich niemand vor den brüderlichen Hieben zu fürchten brauchte.
Die Treppe hinunter und um den Küchentisch herum, setzten sich die beiden Gäste, während Malandro zum Waschbecken tapste. "Ihr könntet mir wenigstens helfen."
"Bist du hahnepampelig? Ich habe meine Uniform an. Die hat schon genug Hamel jeden Abend."
Gunnar hob nur seine Hände: "Geht nicht."
Malandro verdrehte die Augen, während er sich wieder seiner Arbeit zuwendete.
"Was ist denn das für eine Idee, Tiscio?"
"Ich habe gestern im Fredel gesessen. Das ist die Kneipe, in die die Jungs von der Verbindung hingehen."
"Tiscio, ich war gestern dabei, als wir vor verschlossenen Türen standen."
"Ach ja, stimmt. Auf jeden Fall habe ich mir da mal alles aufgeschrieben, was wir bisher erfahren haben. Und dabei fiel mir auf, dass grundsätzlich alle Verdächtig sind."
"Das ist dir erst in der Kneipe aufgefallen?"
"Nein, ich meine, mir ist dabei aufgefallen, dass wir bisher noch gar nicht an die Vermieterin gedacht haben. Mein Oberwachtmeister meinte einmal, dass die Mörder fast immer diejenigen sind, die das Opfer am besten kennen."
"Wie wir ja vor zwei Jahren gesehen haben, nicht wahr?" grummelte Malandro über dem Waschwasser. Tiscio ignorierte ihn jedoch. Dämonische Terroristen zählten nicht.
"Und wer hatte vermutlich am meisten mit dem Professor zu tun?"
"Alorg Liweg."
"Nein, seine Vermieterin. Vielleicht hatte sie ja ein Motiv."
"Bis auf die Tatsache, dass sie ihn dann vermutlich in seinem Zimmer umgebracht und dabei eher ein Küchenmesser als ein Schwert verwendet hätte, keine schlechte Überlegung."
"Wir können sie ja mal ein wenig beobachten."
"Meine ich auch. Auf jeden Fall sollten wir noch einmal mit ihr sprechen."
"Die wird sich freuen."
In diesem Moment läutete ein kleines Glöckchen. Alle wandten ihren Kopf um und Mal sagte mit betretener Miene "Ich werde niemals mit diesem Abwasch fertig werden." Dann grinste er wieder. "Apfelhelm ist fertig. Wir können hoch."

In dem großen Zimmer, das dem Ermittler als Arbeits- und Schlafraum diente, war der Teppich bereits zur Seite geräumt. An seiner Stelle standen in zwei Reihen neun brennende Kerzen, wobei jede von einem Kreis aus Kreide umringt war. Jeder der Kreise der Fünferreihe war mit jede Kreis der Viererreihe über einen Kreidestrich verbunden. Unterschnitt hielt bereits einen Glasbecher in der linken und eine Pipette in der rechten Hand. Beim letzten Mal hatten die Drei noch beobachtet, wie er die bräunliche Flüssigkeit aus verschiedenen anderen Tinkturen zusammengemixt hatte.
Malandro eilte zum Fenster und zog die Vorhänge zu, während Unterschnitt damit begann, auf jedes Kreidekreuz einen Tropfen aus der Pipette fallen zu lassen. Als nächstes legte er einen der Briefe in die Mitte seines kleinen Liniengespinstes.
Dann sprach ihr Gastgeber seinen erst Zauber "Go-Lei" und die Kerzen flammten mit einem Mal auf, um anschließend ruhig und gleichmäßig zu brennen. Als nächstes begann er eine Wortfolge immer und immer wieder auszusprechen, die die Jungs beim letzten Mal schon nicht richtig verstanden hatten. Sie klang wie "Dan-gos i ni Ue duen", aber weder Gunnar, der der gebildetste von ihnen war, noch Malandro, der inzwischen immerhin ein wenig mehr von Magie begriff, wussten, was sie bedeuten sollten. Wie beim letzten Mal erschien ihnen der gelassene Ton, in dem Unterschnitt seinen Zauber aufsagte, unpassend, denn von einem magischen Ritual erwarteten sie mehr. Wobei sie immer noch versuchten, ein anderes Ritual zu vergessen, welches jeden Anspruch an Dramatik über Gebühr erfüllt hatte.
Die Kerzen, die anfänglich fast rauchlos gebrannt hatten, begannen zu rußen. Der Qualm bündelte sich über dem Blatt und diente als Leinwand für Bilder, die wenig später erschienen. Zuerst zeigten sie Malandro, dann den Professor. Es folgte nacheinander zwei Männer, die durch ihre Kleidung und Umgebung wenig wie Briefschreiber aussahen und vielmehr an Banditen erinnerten. Vermutlich handelte es sich um die Schmuggler, die den Brief transportiert hatten. Schließlich erschien ein älterer Mann im Rauch. Er mochte fünfzig oder sechzig Jahre alt sein. Seine Kleidung wirkte, als würde sie aus einem vergangenen Jahrhundert stammen und die Brille, die er auf der Nase trug, wirkte wie eine Maske aus Holz mit zwei dicken Glasbausteinen in Höhe der Augen. Er schien sich in einem alten Gemäuer aufzuhalten, vielleicht einer Burg oder einem Tempel, vielleicht aber auch die Kellergewölbe eines riesigen, reichen Hauses. Es erinnerte sie an das Kunstmuseum, in das Tiscio und Malandro mal mehr aus Versehen gestolpert waren. Überall standen Vitrinen mit uninteressanten Statuen, verrosteten Waffen und altem Schmuck. An den Wänden hingen Bilder, die in einem wenig Naturgetreuen Stil einzelne Personen darstellten.
Der Fremde war gerade dabei, eine der Vitrinen zu putzen und machte dabei nicht den Eindruck, als wenn es die langweiligste Tätigkeit dieses Tages sein würde, noch dass es ihm etwas ausmachte.
"Bevor ihr fragt: ich kenne diesem Mann nicht. Und die Bilder an der Wand könnten jeden darstellen, soweit ich es weiß."
"Wir hätten einen Heliographen aufstellen sollen, dann hätten wir ein Bild davon machen können", warf Gunnar ein.
"Und wem hätten wir es zeigen sollen?" Was eine berechtigte Frage war. Immerhin wurde Magie selbst von ihrem toleranten König weiterhin als Häresie gegen Hetrados betrachtet, auch wenn Malandro inzwischen vermutete, dass er, seine Minister und die Metrowacht viel durchgehen ließen, wenn man dabei diskret vorging.

Nachdem Unterschnitt die Kerzen mit zwei kurzen Handbewegungen gelöscht hatte und die Vorhänge wieder aufgezogen waren, blickten sie einander in ihre enttäuschten Gesichter.
"Noch eine Sackgasse", seufzte Tiscio.
"Gibt es jemanden, der uns etwas über diese Adligen sagen könnte?"
"Es gibt ein paar Heraldiker, die sich mit dem Geschlecht auskennen, Malandro. Außerdem finden sich sicher auch einige gebildete Reisende, die die [Hügelstätte] aufgesucht haben. Wir müssten nur an der richtigen Stelle suchen. Und natürlich gibt es Bücher." Letzteres sagte er mit einem Blick auf Gunnar.
"Das ist nicht gerade mein Fachgebiet."
"Aber du hast wenigstens freien Zugang zur Universitätsbibliothek."
"Und wenn wir in die [Hügelstätte] gehen und uns mal die Burg, oder in was immer die auch leben, ankucken?"
"Abgesehen davon, dass wir eine ganze Weile unterwegs wären, gibt es da das kleine Problem, dass die [Hügelstätte] immer noch offiziell unsere Feinde sind. Gerade für dich, Tiscio, könnte das sehr schädlich für die weitere Kariere bei der Metrowacht sein, wenn du ohne guten Grund einen befeindeten Nachbarn besuchst. Aber Grundsätzlich könnten wir natürlich dorthin reisen. Es gibt reglementierten Austausch und auch Besuch, der die Grenze überschreitet. Um uns Scherereien zu ersparen, müssten wir allerdings eine größere Zahl Formulare ausfüllen."
"Dann sollten wir vielleicht schon mal damit anfangen", schlug Malandro vor. Als ihn alle erstaunt ansahen, fügte er hinzu: "Wir haben getze keine bessere Spur und wenn wir nicht bald was finden, sind wir wenigstens vorbereitet."

Die Jungen aus der Feldstrasse