Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 06


Unterschnitt, Malandro und Tiscio hatten es sich in der Zwischenzeit gut gehen lassen und die Mahlzeit, die Soldrang ihnen bereitet hatte, restlos verspeist. Nun saßen sie erwartungsvoll am Tisch, während Gunnar die bunte Pfanne hineinschlang, die der Buttler aus Resten zusammengebraten hatte. Dabei trieben sie den Nachzügler an, weil ihr Gastgeber verkündet hatte, ein paar Erläuterungen preiszugeben, sobald alle satt wären.
"Ich wollte, dass Gunnar auf jeden Fall meine Erläuterungen mitbekommt, weil er derjenige war, der am vehementesten von dem Brieföffner als Tatwaffe ausgegangen ist." Die beiden anderen blickten Gunnar an, als hätten sie natürlich gewusst, dass seine Annahme kompletter Unsinn gewesen war. Gleichzeitig konnte man jedoch in ihren Gesichtern erkennen, dass sie selbst gespannt auf die Erklärung waren.
"Wenn ihr aufgepasst habt, als ich mit dem kleinen Messer den Stoff zur Seite gezogen habe, konntet ihr unmöglich übersehen, wie groß die Wunden waren. Außerdem zeigten die Wundränder, dass die Klinge, mit der zugestochen wurde, sehr scharf und von einer besonderen Form gewesen sein muss. Was ihr natürlich kaum wissen könnt, ist, dass diese Wunden gut zu einem oravahlischem Kurzschwert passen, dem Danuos. Eine recht archaische Waffe und kaum noch gebräuchlich, außer als sichtbares Zeichen des oravahlischen Nationalstolzes."
Er nahm einen Schluck aus seinem Becher, um diese Information einsacken zu lassen.
"Natürlich kann sich jeder in den Besitz einer solchen Waffe bringen, aber merkwürdig ist es trotzdem. Ich verwende hier dieses Wort im alten Sinn." Nur Gunnar begriff sofort, was sein Gastgeber damit sagen wollte. "Etwas anderes ist jedoch viel bemerkenswerter. Ich weiß, dass ihr alle das aufgeschlagene Buch auf dem Schreibtisch begutachtet habt. Es ist naheliegend, dass dies eines der letzten Werke war, die der gute Professor in seinem Leben gelesen hat." Eine weitere Pause, ein weiterer Schluck.
"Was sagt euch der Name 'Trenai'?" Als alle eine Antwort schuldig blieben, fuhr Unterschnitt fort: "Es war auch unwahrscheinlich, dass ihr den Namen kennen würdet. Bei den Trenais handelt es sich um ein altes Adelsgeschlecht mit Sitz in den Hügelstätten. Davon gibt es überraschend viele, jedoch wenige die es geschafft haben, bis in die heutige Zeit zu überdauern. Ihr Stammbaum reicht bis in die Zeit kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung zurück. Im Grunde spielt dieses Adelsgeschlecht jedoch kaum eine Rolle, weder in den Hügelstätten, noch für unser Königreich. Es gibt jedoch ein altes, nennen wir es mal Gerücht, welches besagt, dass ein Abenteurer und Strauchdieb in dieses Geschlecht einheiratete, welcher eine Zeit lang mit einem gewissen Rohloff gewandert sein soll." Als Unterschnitt den Namen "Rohloff" nannte, spitzten die drei ihre Ohren. Keiner von ihnen hatte besonders gut im Geschichtsunterricht aufgepasst. All die Zahlen und ach so wichtigen Könige, Fürsten und Politiker - wer wollte das schon auswendig lernen. Die Legende des ersten Königs von Xpoch, seiner Gefährten und wie sie ihn nach seinem Sieg gegen die Oravahler verrieten, war jedoch mehr nach dem Geschmack zappeliger Jungen. Je nachdem, wer sie erzählte, begann sie mit der Eroberung Xpochs durch das Inselvolk der Oravahler oder mit der Weisung Hetradons an Seklon, seinen treuen Diener, ein altes Artefakt zu finden, das Horn Seklons, dass zuvor sicher anders geheißen hatte, aber nachdem Seklon I. es für seinen Aufstieg zur Macht verwendete, nur noch unter diesem Namen bekannt war.
Als Seklon das Horn blies, wurden die Ahnen aller wahren Xpochler zu den Waffen gerufen, und der Feind in einer einzigen, grausamen Nacht aus der Stadt vertrieben.
Der Verrat fand wenig später statt, als Seklons treuster Gefährte mit seinen Freunden das Horn stahl und mit ihm entkam.
Seitdem hatte kein Kind mehr in Xpoch den Namen Rohloff erhalten, denn der Erzverräter galt selbst den kleinsten Kindern als verhasst.
Wenn man mit etwas Abstand über die Geschichte nachdachte, blieben ein paar Lücken und Ungereimtheiten, die jedoch jeder ignorierte. Schließlich handelte es sich nur um eine Legende, auch wenn sie jedem Kind in der Schule als Teil der Geschichte ihrer Stadt gelehrt wurde. Und Legenden mussten nicht logisch sein.
"Es macht den Eindruck, als hätte unser Professor dieses Gerücht geglaubt und vielleicht sogar Beweise dafür gefunden. Es wäre interessant herauszufinden, womit er sich tatsächlich gerade beschäftigt hat."

"Und was getze?" fragte Tiscio, als sie vor der Tür zur Konditorgasse 23a standen.
"Wir sollten gucken, dass wir uns das Buch besorgen." schlug Malandro vor.
"Das wäre wohl nicht schlecht." Gunnar richtete sich ein wenig gerader auf. Er hatte den Schnüffler in Unterschnitts Garderobe gelassen und fühlte sich sofort viel bereiter, erneut durch die Stadt zu laufen.
"Dann können wir auch gleich noch mal die anderen Bücher untersuchen."
"Es wäre möglich, dass er noch einiges zuhause hat. Manche Professoren nehmen Bücher mit, auch wenn das eigentlich nicht erlaubt ist."
"Und wie bekommen wir das heraus?"
"Naja, wir kucken, ob was in den Regalen fehlt. Außerdem fragen wir noch in der Bibliothek nach, ob er sich etwas ausgeliehen hat, dass nicht in seinem Büro ist."
"Am Ende müssen wir aber vermutlich trotzdem zu ihm nach Hause."
"Das bleibt wohl nicht aus."
"Dann werde ich bei der Hauptwacht nachfragen, wo Herr Professor Ulfhaus gelebt hat." Tiscio beteiligte sich erst jetzt an dem Gespräch, weil er nichts Vernünftiges hätte beisteuern können. Als Wachtmeisteranwärter lernte man, seinen Mund zu halten.
"Bannige Idee. Wo treffen wir uns wieder."
"Ich komme zur Universität. Wer weiß, wo wir hin müssen."
"Lass dir Zeit, wir werden eine Weile brauchen", rief Gunnar Tis nach, als dieser sich zur Metrowacht aufmachte.

Der Zutritt zum Zimmer des Professors wurde ihnen diesmal nicht verwehrt, auch wenn ein hektischer Liweg zur Tür gestürmt kam, als sie sich selbst einließen. Er hätte sie gerne am Betreten des Raums gehindert, ließ jedoch alle Hoffnung fahren, als er sie erkannte.
"Habt ihr etwas vergessen", begrüßte er sie wenig höfflich.
"Hallo Alorg. Ne, Vergessen haben wir nichts. Wir wollen nur noch mal einen genaueren Blick auf ein paar Bücher werfen." Statt auf den Haufen Bücher auf dem Tisch, der inzwischen ein wenig besser gestapelt war, vielen ihre Blicke jedoch auf den großen Fleck auf dem Dielenboden. Malandro gelang es schnellerer sich von den Erinnerungen an die Leiche zu lösen. Er trat zum Tisch und untersuchte die Stapel, bis er das Buch fand, welches sie zuvor aufgeschlagen gesehen hatten.
"Grabenschleim. Zugeschlagen." Er wollte Liweg schon einen bösen Blick zuwerfen, als Gunnar ihm das Buch aus der Hand nahm und es vorsichtig auf dem Tisch öffnete.
"Professor Ulfhaus ist nicht nett zu diesem Buch gewesen. Vielleicht hat er es genug beschädigt, dass es sich die letzte Seite gemerkt hat." Sachte blätterte er die Seiten durch, die sich aufgestellt hatten, bis er an eine Stelle kam, die fast wie von selbst offen blieb. "26.10.1314? 27.? 28.? Das ist ein Tagebuch."
"Ich weiß nicht, ob ich das lesen möchte. Tagebücher von anderen liest man nicht."
"Der Schreiber ist seit mehr als 400 Jahren tot“, Gunnar drehte das Buch um und deutete auf die Jahreszahl auf dem Buchrücken, „und wir sind bestimmt nicht die ersten, die es lesen. Ich glaube nicht, dass da noch jemand ein Problem mit hat."
Malandro sah kurz zu Liweg und zog dann die Schultern hoch.
"Das meiste, was sie schreibt, ist nur über alltägliche Sachen. Haushalt, Frauenkram."
"Sie?"
"Ja, sie spricht mehrfach über ihren Mann. Hier am 26. schreibt sie davon, dass er ihr erzählt hat, wie er und ein paar andere im Krieg gegen Oravahl gekämpft haben. Und am 27. steht dann, dass er ihr die Geschichte zu Ende erzählt hat. Wie sie das Horn gestohlen und in den Strudel geworfen haben."
"Was für einen Strudel?"
"Das weiß sie wohl selber nicht. Zumindest hat er ihr wohl nicht sagen können, wo der Strudel war."
"Wir sprechen jetzt über so ein Loch im Wasser und nicht über etwas zu essen, nich'?"
Gunnar sah Malandro verwirrt an.
"Ich wollte nur sicher gehen. Steht da noch mehr?"
"Auf den Seiten davor und danach nichts, dass auch nur ansatzweise über das Tagesgeschäft hinausgeht." Als Gunnar dies sagte konnte Mal jedoch beobachten, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er nahm ihm das Buch aus der Hand und musste grinsen, als er den zweiten Eintrag auf der aufgeschlagenen Seite las. Fast hätte er seinem Freund das Haar zerzaust, wollte ihn aber nicht unnötig vor dem Assistenten bloßstellen.
"Herr Liweg?" richtete er sich stattdessen an den Mann, der sie die ganze Zeit über misstrauisch beobachtet hatte.
"Was gibt's denn noch?"
"Wären sie so freundlich, uns die Adresse von Professor Ulfhaus zu geben?"
"Warum auch nicht", antwortete er müde, als wäre ihm inzwischen alles egal. "Er hatte eine Wohnung im Studiosusstieg 6. Hätte ihnen vermutlich auch jeder andere sagen können."
"Weißt du, ob er noch etwas aus der Bibliothek geliehen hatte?" warf Gunnar ein, als Malandro ihm mit einem Blick zu verstehen geben wollte, dass sie sich wieder auf den Weg machen sollten.
"Nein, ums Ausleihen hat er sich immer selber gekümmert. Nur zurückbringen durfte ich sie dann immer."
"Dann müssen wir wohl selber nachfragen gehen."
Damit ging Gunnar ohne ein weiteres Wort zu verlieren aus dem Raum. Malandro folgte ihm auf dem Fuß, konnte aber noch ein gemurmeltes "nicht mal bedankt" hinter sich hören.

Die Jungen aus der Feldstrasse