Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 04


"Das ist ein schönes Schreiben, dass sie da haben. Aber trotzdem ist es doch reichlich gegen die Regularien." Der Wachtmeister las das Schreiben, welches Malandro ihm gereicht hatte, ein drittes Mal. "Da muss ich erst mit meinem Vorgesetzten sprechen." Der ältliche Berti erhob sich und verschwand in einem Raum hinter seinem Tresen. Malandro blickte sich hastig in dem Vorraum der Hauptwacht um, als stände er unter Zeitdruck. Genaugenommen hatte er noch alle Zeit der Welt, um die Universität zu erreichen, fürchtete jedoch, dass sich die Metrowächter viel Zeit mit der Bearbeitung seiner Angelegenheit lassen würde. Manche von ihnen mochten Unterschnitt nicht besonders gerne und legten ihm gerne ein paar Steine in den Weg, wenn man ihnen anschließend keinen Strick daraus drehen konnte. Zusätzlich befürchtete er, dass Tis noch nicht einmal da war, sondern seine Zeit auf irgendeiner Streife vertrödelte. Vermutlich konnten sie jedoch den Wachtmeisteranwärter noch später dazu holen, wenn es ihm jetzt wenigstens gelang, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass Unterschnitt um eine Zusammenarbeit bemüht war.
Er Atmete erleichtert aus, als ein Oberwachtmeister vor seinem Untergebenen aus der Tür trat, in die letzterer vor nicht einmal einer Minute verschwunden war.
"Sind sie Herr Sabrecht? Sie kennen den Inhalt des Schreibens?" Malandro nickte zwei Mal, kam aber nicht dazu auch nur ein Wort zu äußern, denn seinem Gegenüber schien sein Nicken kaum der Beachtung wert zu. Stattdessen sprach er einfach weiter: "Ich kann kaum verhindern, dass jemand Herrn Unterschnitt mit Ermittlungen beauftragt, mag es auch der Dekan der Universität sein. Ich muss aber auch nicht besonders darüber freuen. Andererseits will ich nicht undankbar sein, dass Herr Unterschnitt uns darüber informiert und um einen Liaison Wachtmeister bittet. Aber warum, um alles in der Welt will er dafür einen Wachtmeisteranwärter."
Es dauerte einen Moment, bis Malandro sich von der Heftigkeit des Ausbruchs erholt hatte. Schließlich antwortete er jedoch mit festerer Stimme, als er selbst erwartet hatte: "Herr Unterschnitt hat bereits mit Herrn Cano, ich meine mit Wachtmeisteranwärter Cano zusammengearbeitet. Wir arbeiten gut zusammen."
Der Oberwachtmeister kniff die Augen zusammen und betrachtete den jungen Mann länger, als diesem lieb war. "Sie sind das." Der Offizier warf dem Wachtmeister neben ihm einen Blick zu, den dieser fragend erwiderte. "Na gut, dann soll er ihn bekommen." Damit schien für ihn das Gespräch beendet zu sein. Er gab seinem Untergebenen nur noch ein paar Anweisungen und reichte Malandro sein Schreiben zurück. Mal wurde auf die Straße komplimentiert, damit er nicht ein Eingangsbereich verstopfte. Er musste jedoch nicht lange vor dem Portal warten, ehe Tiscio erschien, der ihn mit einem Grinsen begrüßte. "Jetzt bin ich euer Aufpasser. Und ich werde jeden Unsinn, den du anstellst, sauber zu Protokoll bringen."

An der Universität mussten sie schließlich auf Gunnar warten, der den längsten Weg zurückzulegen und wohl auch am schwersten zu tragen hatte. Als er mit schnellen Schritten eintraf gaben sie ihm trotzdem keine Gelegenheit, zu Atem zu kommen und betraten gemeinsam das Gebäude.

Es war nicht schwer, den Tatort zu finden. Man musste nur den Ort suchen, zu dem jeder wollte, aber keiner durfte. Auch die drei stießen schnell auf eine Sperre aus zwei unüberwindlichen Wächtern, die immerhin anerkannten, dass Tiscio einer von ihnen war. Von ihrer Position aus konnten sie nicht viel vom Raum des toten Professors ausmachen, bekamen jedoch mit, wie Hauptwachtmeister Albrecht einem jungen Mann verhörte. Der Gegensatz zwischen den beiden hätte kaum größer sein können, wenn der eine ein Osispun und der andere ein Elf gewesen wäre. Netmann Albrecht war ein Spross der berühmtesten Berti-Familie. Als die Metrowacht gegründet wurde, fanden sich so viele Albrechts unter den ersten Rekruten, dass sie der Stifter des Spitznamens wurden. Er hatte also eine stolze Tradition zu wahren, was seine Kleidung noch etwas konservativer, seine Haare noch etwas glatter, seine Haltung noch etwas steifer und seinen Schnauzer noch etwas aufrechter machte. Sein Gegenüber hingegen, ein Alorg Liweg, seines Zeichens Assistent des Ermordeten, wie Gunnar seinen Freunden zuflüsterte, war ein Fopp. Dabei war sein in sanften Locken fallendes, schulterlanges Haar noch nicht einmal der Teil an ihm, den Gunnar am wenigsten mochte. Er war klein, fast einen Kopf kleiner als der Hauptwachtmeister, hatte jedoch breite Schultern und hielt sich mit der lässigen Eleganz von jemandem, der wusste, dass er gut aussah. Die drei jungen Männer vor dem Zimmer fanden zwar seine enganliegende, gelbe Jacke albern, wussten jedoch, dass sie gerade der neuste Chic bei Lebemännern und wohlhabenden Studenten war. Trotz seiner Eleganz und der bemühten Nonchalance hatten die drei den Eindruck, dass Alorg sich vor seinem Gegenüber duckte, als wäre er ein kleines Hündchen, das den Klapps des Hauptwachtmeisters fürchtete.
Das Verhör geriet ins Stocken, als Hauptwachtmeister Albrecht Tiscio durch die offene Tür blicken sah.
"Was machen sie denn hier, Wachtmeisteranwärter Cano?"
"Ich bin abgestellt, Herr Hauptwachtmeister." Während er fragte, schob er den Assistenten vor sich aus dem Raum.
"Abgestellt? Wozu? Und warum weiß ich davon nichts?"
"Als Verbindungswachtmann zu Herrn Unterschnitt, Herr Hauptwachtmeister." Malandro, der seinen Blick nicht von dem Stutzer losreißen konnte, bemerkte mit Genugtuung, dass Liwegs Augen bei der Nennung seines Lehrmeisters und Freundes groß wurden.
"Wer hat das genehmigt?"
"Oberwachtmeister Beulfung, Herr Hauptwachtmeister."
Erst jetzt sah der große Mann die anderen beiden Jungen an, bevor seine Augen erneut Tiscio fanden.
"Ich nehme an, dass Herr Unterschnitt hierher kommt? Wer hat ihn beauftragt?" Letzteres war an Malandro gerichtet.
"Dekan Baheim, Herr Hauptwachtmeister", kam Gunnar seinem Freund zuvor, weil er fürchtete, dass Tis den Namen nicht kennen würde.
Dafür wurde er jetzt das Zentrum der Aufmerksamkeit des Hauptwachtmeisters. "Der ... der Dekan hat Herrn Unterschnitt beauftragt, bevor wir überhaupt mit unseren Untersuchungen begonnen haben?" Gunnar wich zurück und wunderte sich gleichzeitig, ob das kurze Zögern des großen Mannes vor ihm darauf zurückzuführen war, dass er den Dekan fast bei seinem Spitznahmen genannt hätte. "Ja, Herr Hauptwachtmeister", er schluckte, "Dekan Baheim will kein Aufsehen erregen."
"Und deshalb beauftragt er einen der berühmtesten Ermittler der Stadt? Und ich dachte, in diesen Gebäuden würde man etwas lernen." Albrecht atmete einmal tief ein und ließ die Luft langsam und hörbar wieder aus seinem Mund strömen. "Na gut. Wir sind sowieso gerade fertig." Er warf noch einen letzten Blick auf das unförmige Gebilde in Gunnars Arm und gab ihnen den Weg frei.

Als die drei den Raum betraten konnten sie gerade noch beobachten, wie ein Berti einen großen heliographischen Apparat abbaute. Tiscio war ein wenig stolz, dass die Metrowacht seit kurem die neue Erfindung verwendete, um Tatorte zu dokumentieren, versuchte es aber nicht zu zeigen, während Malandro und Gunnar das Gerät anstarrten.
Hinter sich hörten sie die fast schon manisch fröhliche Stimme Unterschnitts, der alle Bertis begrüßte während er sich an ihnen vorbeidrückte. Es war ein wenig frustrierend für die Jungs, dass sie so lange aufgehalten worden waren, während der private Ermittler jedes Hindernis einfach zu umschiffen schien.
"Ihr seid auch gerade erst gekommen?" Fragte Unterschnitt, wartete jedoch nicht auf eine Antwort. Stattdessen ging er schnurstracks auf die Leiche zu. "Wurde der Professor so aufgefunden?" stellte er eine weitere Frage in den Raum, auf die er diesmal jedoch eine Antwort zu erwarten schien. Schließlich sah sich der Heliographist gezwungen, die Stille mit ein paar Worten zu füllen. "Nein. Er lag auf dem Bauch." Und als Daraufhin keine Erwiderung kam, "Hat zumindest der Assistent gesagt. Ich habe ihn nur umgedreht, um auch von vorne eine Heliographie nu nehmen."
"Ist der Assistent noch da?"
"Alorg Liweg steht noch vor der Tür." warf Gunnar schnell ein, der beobachtet hatte, wie sich der Geck gerade davon stehlen wollte.
"Nah, dann sollte ich ihn wohl mal befragen. Dreht ihr den Leichnam in der Zwischenzeit wieder zurück?" Damit erhob er sich wieder aus der Hocke und sah Gunnar und Malandro zu, wie sie den Körper drehten. Danach war er mit ein paar langen Schritten wieder bei der Tür, wo ihn der Hauptkommissar und der Assistent erwarteten, beide wenig erbaut über seine Anwesenheit. Als sein Lehrling folgte ihm Malandro auf dem Fuß.
Unterschnitt stellt die üblichen Fragen, die anscheinend auch der Berti bereits gestellt hatte. Name, Wohnort, Art der Arbeit. Liweg beantwortete sie mit dem gebührenden Anschein von Langeweile, der Malandro sehr schnell begreifen ließ, warum Gunnar den Mann nicht mochte.
"An was hat Professor ..."
"Ulfhaus."
"... Ulfhaus gerade gearbeitet?"
"Ich denke, ich sollte nicht darüber sprechen."
"Wieso nicht? Professor Ulfhaus ist tot. Ich vermute doch, dass er nun nicht mehr darauf achten muss, dass ihm jemand anderes neue Theorien vor der Nase wegschnappt."
Liweg wurde ein wenig rot, räusperte sich dann aber vornehm. "Professor Ulfhaus ist, äh, ich meine war Professor für die Geschichte Xpochs. Er hat aber auch über alte Schriften gelehrt."
"Sie haben ihn heute früh entdeckt?"
"Ja, als ich meine Arbeit aufnehmen wollte. Ich habe geklopft. Es hat jedoch niemand geantwortet. Das passiert manchmal. Er ist dann spät dran. Er hat aber heute Morgen eine Vorlesung gehabt, deshalb habe ich mich gewundert. Und dann habe ich ihn gefunden. Er war ja nicht zu übersehen."
"Wann war das?"
"Ziemlich genau um viertel nach neun. Vielleicht eine Minute später, wenn die Schiene heute Verspätung hatte. Das ist für gewöhnlich meine Zeit. Nur gestern war ich früher dran, deswegen bin ich auch bereits um sieben gegangen."
"Warum gestern?"
"Ich musste noch etwas für eine Vorlesung vorbereiten."
Als Unterschnitt eine Pause machte, um einen Blick zurück in den Raum zu werfen, warf Malandro eine Frage ein: "Wie lange haben sie für Professor Ulfhaus gearbeitet?"
"Lassen sie mich überlegen." Alorg ließ seinen Blick in die Ferne streifen, als wollte er dort ein Datum finden. "Inzwischen für etwas mehr als ein Jahr."

Die Jungen aus der Feldstrasse