Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 02


Es gibt verschiedene Wege, um einen Jungen aus seiner Trauer und Zurückgezogenheit zu locken. Einige funktionieren, andere nicht. Manche machen es sogar schlimmer. Ein paar benötigen eine lange Zeit und viel Geduld, um ihre Wirkung zu tun, andere erreichen ihr Ziel, indem sie den Jungen so sehr schockieren, dass er nicht mehr an seine Trauer denken kann.

Bei den meisten hätte der Fund einer Leiche wohl wie letzteres gewirkt.

Gunnar nahm die Nachricht vom Tod eines weiteren Professors jedoch gelassen auf und ignorierte den Trubel, der um ihn herum herrschte. Der einzige Gedanke, der ihn kurzzeitig von seinen Studien abzulenken vermochte, war jener an Alwald, die nach dem Tod ihres Professors bei den Bediensteten untergekommen war und sich jetzt vornehmlich um die zwei Auditorien kümmern musste, wo sie aufräumte und die nächsten Lesungen und Vorführungen vorbereitete. Hier konnte sie natürlich weniger lernen als bei der Unterstützung eines Wissenschaftlers, aber immer noch mehr als in der Wäscherei oder Küche. Manchmal durfte sie bei der Präsentation von Experimenten im Saal bleiben, um im Zweifelsfall mit Wischeimer oder Löschdecke zur Stelle zu sein. Zu anderen Gelegenheiten versteckte sie sich unterhalb der Sitzreihen, wo sie zwar nur wenig durch ein selbstgebohrtes Loch sehen konnte, aber wenigstens die Ausführungen hörte. Sie war schon mehr als einmal dabei erwischt worden und hatte die Schimpftiraden über sich ergehen lassen, als sei es der Preis, den sie für das Wissen, dass sie so sehr begehrte, zahlen musste.

Gunnar hätte alles dafür getan, um ihr diese Schmach ersparen zu können. Doch konnte er schwerlich im Alleingang die Regeln und Gesetze der Universität ändern. Alles, was er tun konnte, war sie an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Zwar konnte sie nicht mit seinem Erfindungsreichtum mithalten, saugte aber alles Wissen, dass er an sie weitergab, wie ein trockener Schwamm auf. Denn anders als Gunnars Freunde vermuteten, verbrachten sie nur sehr wenig Zeit damit, Zärtlichkeiten auszutauschen. Vielmehr lasen sie, diskutierten und lernten zusammen. Oft bereiteten sie gemeinsam eine der Lesungen vor, die Gunnar anstelle seines Professors halten musste, da dieser vor ein paar Jahren das Zittern bekommen hatte. Natürlich konnte all dies nur heimlich geschehen, wenn niemand sie beobachtete. Die Professoren hätten ihm wahrscheinlich eine Standpauke gehalten und ihn vielleicht sogar suspendiert, wenn sie erfahren hätten, dass er gelegentlich Bücher für Alwald aus der Bibliothek auslieh. Schlimmer wären jedoch die Studenten gewesen, deren Respekt er nur mühsam hatte gewinnen können und der immer noch auf sehr wackligen Beinen stand.


An all das dachte er gerade, als ihn einer der anderen Studenten in der Bibliothek fand.

"Linden, hey. Der Dekan will dich sprechen." Der junge Mann gehörte unübersehbar einer der schlagenden Verbindungen an. Gunnar konnte ihn nicht ausstehen. Das lag sicherlich zum Teil an seiner Mitgliedschaft, die den fünfzehnjährigen gleichermaßen beeindruckte und erschreckte. Aber hauptsächlich hing es damit zusammen, dass er und einige seiner Freunde ihm drei Monate lang in der Mensa aufgelauert hatten, um ihm den größten Teil seines Mittagessens abzunehmen. Nicht, dass es besonders gut schmeckte, aber die Tage waren lang und jeder Bissen half dabei, sie besser durchzuhalten. Schließlich hatten sie jedoch ein neues Opfer gefunden und ihn in Ruhe gelassen, was jedoch nicht verhinderte, dass Gunnar immer noch gelegentlich darüber nachdachte, ob er diesen Idioten nicht mit seinen Freunden einmal einen Besuch abstatten sollte. Natürlich wusste er, dass Tiscio sich niemals darauf eingelassen hätte, denn eine Prügelei hätte sich sehr schlecht in seiner Akte gemacht. Aber der Gedanke versüßte ihm die eine oder andere unruhige Nacht.

Aber gleichgültig, ob er den Überbringer der Botschaft mochte oder nicht, den Anweisungen des Dekans widersetzte sich kein Student, wenn er die Universität weiterhin besuchen wollte.


Daher fand er sich wenig später auf einem der massiven Stühle im Büro des Dicken Mannes wieder. Es war eine schmeichelnde Beschreibung dessen, was jeder zu sehen bekam, der dem Dekan begegnete. Der Dekan war fett und sorgte mit beständiger Nahrungsaufnahme dafür, dass dem so blieb. Daher schämten sich nicht einmal die Professoren, den wenig vorteilhaften Spitznamen zu verwenden, denn er hätte so viel schlimmer ausfallen können. Natürlich taten sie es niemals in Anwesenheit von Studenten. Aber vor den Dienstleuten, die für sie so gut wie unsichtbar waren, kannten sie keine derartigen Skrupel, weswegen Alwald es mehrfach in Gesprächen zwischen den ehrwürdigen Lehrern hatte hören können, woher wiederum Gunnar es wusste.

Der Dekan, dessen Namen Gunnar sicherlich schon einmal gehört hatte, der ihm jedoch um alles in der Welt nicht einfallen wollte, hatte ihm mit einer dicken Hand den Stuhl angeboten und anschließend in aller Ruhe das Törtchen vor sich verspeist, bevor er auch nur ein Wort verloren hatte.

"Ich wünsche ihnen einen guten Morgen, Herr van der Linden", eröffnete er das Gespräch, während er sich noch den Mund mit einer Serviette abtupfte. Gunnar erhob sich, um den Gruß zu erwidern, wurde jedoch von einer Handbewegung sofort wieder in den Stuhl gewunken. "Guten Morgen, Herr Dekan. Sie haben mich rufen lassen."

"Ja, das habe ich." Er betrachtete Gunnar mit seinen kleinen Augen, die den Jungen schnell vergessen ließen, dass Verfressenheit nicht bedeutete, dass man einen geringen Verstand besaß. Im Falle des Dekans war das Gegenteil der Fall und Gunnar wurde unbehaglich bei dem Gedanken, was diese Augen sehen mochten.

"Gehe ich recht in der Annahme, Herr van der Linden, dass sie vom Tod des geehrten Professor Ulfhaus gehört haben?"

"Ja, Herr Dekan."

"Und was halten sie von der Sache?" Die Frage kam so plötzlich und unerwartet, dass Gunnar einen Augenblick lang nicht wusste, was er antworten sollte.

"Ich weiß nicht, Herr Dekan. Es wird gesagt, er sei ermordet worden."

"Das heißt es, ja. Ein Dolch im Rücken kann solche Vermutungen entstehen lassen."

"Davon wusste ich nichts, Herr Dekan. Ich habe nur am Rande davon gehört und mich lieber um meine Studien gekümmert."

"Sehr lobenswert, Herr van der Linden. Ich wünschte, mehr Studenten würden ihren Eifer teilen. Oder den ihrer Freundin."

Gunnar erbleichte. Was hatte der Dekan da gesagt? Was hatte Alwald damit zu tun? Was wollte er damit andeuten?

"Ich verstehe nicht, Herr Dekan." Unwillkürlich verkrampften sich Gunnars Hände um die Lehnen des großen Stuhls und sein Oberkörper wurde noch ein wenig gerader.

"Ich glaube, sie verstehen mich sehr gut. Aber lassen sie uns erst einmal nicht mehr davon sprechen. Ich habe ein wichtigeres Anliegen, weswegen ich sie zu mir bestellt habe."

Der junge Student entspannte sich ein wenig.

"Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus. Oder sollte ich besser sagen: es halten sich bestimmte Gerüchte, dass sie mit Herrn Unterschnitt bekannt sind."

Gunnar war nur für einen Moment lang verwirrt, bis er die einzelnen Äußerungen des Dekans in Zusammenhang gebracht hatte. Er nickte, während sein Gesicht einen Ausdruck annahm, von dem er hoffte, dass er geschäftsmäßig aussah. Er wusste, um was ihn der Dekan bitten würde.

"Ein Mord in diesen ehrwürdigen Hallen ist eine sehr unschöne Angelegenheit und die Unruhe, die die Männer der Metrowacht in unsere Halle tragen werden, wird der Aufmerksamkeit unserer Studenten sehr abträglich sein, wie ich vermute." Eine Hand des Mannes unterstrich seine Worte mit einem Wirbel in der Luft, der wohl die Universität einschließen sollte, während die andere auf seinem Wams ruhte.

"Daher würde ich die guten Beamten gerne so weit wie möglich von diesem Gelände fernhalten. Natürlich kann ich es nicht ganz vermeiden. Ein Mord ist ein Mord ist ein Mord. So etwas lässt sich nicht verheimlichen. Aber wenn ein Mann wie Herr Unterschnitt sich in die Ermittlungen einschalten würde, ließen sie sich vielleicht davon überzeugen, nicht allzu oft hierherzukommen."

Erneut nickte Gunnar. Er ahnte, dass sich mehr hinter den Worten des Dekans verbarg, als er sagte, aber er konnte ihn unmöglich darauf ansprechen. Daher wartete er auf die nächsten Worte, die jedoch nicht kamen. Stattdessen sah ihn der Dicke Mann erwartungsvoll an, bis Gunnar schließlich aufgab.

"Sie möchten, dass ich Herrn Unterschnitt bitte, den Mord zu untersuchen, Herr Dekan?"

"Genau das möchte ich, Herr van der Linden. Wenn sie so freundlich wären."

"Mhm, das kann ich gerne tun, Herr Dekan, aber warum bitten sie ihn nicht selber, wenn ich fragen darf."

"Herr van der Linden, sie müssen wissen, dass unsere Gelder sehr knapp bemessen sind und ich fürchte, dass ich diese Sonderausgabe kaum vom Finanzausschuss bewilligt bekommen werde."

"Ich soll ihn bitten, umsonst zu arbeiten?" platzte es aus Gunnar heraus.

"Nicht umsonst, aber kostenlos wäre schön."

"Aber Herr Dekan. Herr Unterschnitt arbeitet nicht umsonst", entfuhr es Gunnar, und er schalt sich einen Bauerntölpel, weil ihm der gleiche semantische Fehler ein zweites Mal unterlaufen war.

"Lassen sie sich etwas einfallen. Sie sind doch ein kluger junger Mann. Und wenn der Fall gelöst wird, ohne dass unsere Kassen davon belastet werden, soll das auch nicht zu ihrem Schaden oder dem von Fräulein Dehaus sein. Dann könnten wir sogar darüber hinwegsehen, dass Bücher aus unserer Bibliothek immer wieder in den Händen von Menschen landen, die nicht dazu befugt sind."


Was hätte Gunnar darauf noch sagen sollen.

Die Jungen aus der Feldstrasse