Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 01


Die Walkriede hatte keine so stolze Vergangenheit wie der Werwolf oder einige andere der älteren Kneipen. Auch der Name mochte für Einwohner Xpochs, die nicht in den Gerberreihen wohnten, wenig Einladend klingen. Aber es war eine freundliche, helle Kneipe, deren Wirt sich nicht darum scherte, dass einer seiner Gäste noch recht jung aussah. Was jedoch noch mehr zählte, war, dass er auch ansonsten kein Aufsehen um die drei Burschen und das Mädchen machte, die mindestens einmal in der Woche an einem seiner Tische saßen.

Sie hatten nach den Ereignissen, in die die drei jungen Männer vor zwei Jahren verwickelt worden waren, gedacht, der Werwolf würde ihre Stammkneipe werden. Schließlich hatten sie sich ihren Platz dort verdient. Dank Linnbeth, der Frau, die sie einmal an jenem fast ehrwürdigen Ort getroffen hatten, hatte sie jedoch ein gewisser Ruf eingeholt. Das war anfangs nicht unangenehm gewesen, hatte jedoch unweigerlich die gesuchte Drei- und später Viersamkeit verhindert.

Aus einer Laune heraus, und vielleicht auch, weil sie sich etwas beweisen wollten, hatten sie sich daraufhin im Hai treffen wollen. Doch die Hafenkneipe, deren Ruf bereits vor dem sehr blutigen Mord an einem Berti sehr schlecht gewesen war, hatte jenen Mord nicht überstanden und sie hatten sich vor einer vernagelten Tür wiedergefunden.

Aber selbst zu diesem Zeitpunkt war die Walkriede noch nicht die erste Wahl für ihre Stammkneipe gewesen. Noch zwei weitere Monate hatten sie eine Gaststätte nach der anderen ausprobiert, bis nur noch wenige Orte übrig geblieben waren, die für jeden von ihnen gut zu erreichen waren.

Seitdem die beiden Älteren ihre Ausbildungen begonnen hatten, wohnten sie nicht mehr bei ihren Familien. Beide waren in die Gerberreihen gezogen, wo sie sich näher an ihren Ausbildungsstätten befanden. Der Jüngere hingegen wohnte immer noch bei seiner Mutter, obwohl er Tag für Tag den Weg durch die Stadt zur Universität und zurück zu absolvieren hatte. Alles in allem waren die drei derzeit genau dort, wo sie vor zwei Jahren noch gedacht hatten, niemals hinzukommen.

Trotzdem konnte jeder Besucher der Gaststätte sehen, dass sie nicht glücklich waren.

Am besten ging es vermutlich noch Malandro, der seit dem Abenteuer, dass sie in einigen Kreisen recht bekannt gemacht hatte, bei dem berühmten Privatermittler Unterschnitt untergekommen war. Offiziell diente er dem Mann als Gehilfe bei seinen Fällen sowie Diener für all die Tätigkeiten, die der Buttler Soldrang auf ihn abschieben konnte. Inoffiziell jedoch lernte er von ihm den Umgang mit den Kräften der Magie. Gelegentlich wurmte ihn, dass er vor jedem anderen als seinen besten Freunden nur als einfacher Botenjunge dastand. Und selbst in dieser Funktion stand er oft genug nur abseits, weil ihn die Bertis nur selten die Tatorte betreten ließen. Wenn man ihm gestattete dann ausnahmsweise gestattete, seinen Anteil beizusteuern, durfte er sein neu gelerntes Können trotzdem nicht zeigen, denn selbst unter dem liberalsten aller Könige verfolgte die hetradonidische Staatskirche immer noch jeden Hexer mit gnadenloser Härte. Und wenn dies noch nicht ausgereicht hätte, konnte er seit geraumer Zeit nicht einmal mehr seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Wetten, denn Unterschnitt bezahlte seinem Lehrling gerade mal genug, damit er sich die Schiene und gelegentlich einen Krug in einer Kaschemme leisten konnte.

Trotzdem konnte er nicht behaupten, dass er kein Glück gehabt hatte. Kurz nachdem er seine Mutter in der Feldstraße mit seinem Stiefvater alleingelassen hatte, hatte dieser Säufer sie die Treppe des Mietshauses hinuntergeschubst. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er ihr Gewalt angetan hatte, aber es war für seine Mutter vermutlich die verheerendste der vielen Brutalitäten gewesen. Sie hatte sich mehrere Brüche zugezogen und war kurz darauf ebenfalls aus der Feldstraße geflohen. Nun vegetierte sie in einem der vielen Armenhäuser dahin und warf ihre letzten Pfennige einem zwielichtigen Prediger in den Rachen, der ihr Glückseligkeit und ewiges Leben versprach.

Mehrfach hatte er sich seitdem so sehr in Rage geredet, dass seine Freunde ihn nur mit Mühe davon hatten abhalten konnten, in sein altes Heim zurückzukehren, um den Mann ein für alle Mal aus seinem Leben zu schaffen. Zum Glück verfiel er in diese Stimmung nur, wenn er etwas getrunken hatte, was er nur noch tun konnte, wenn er mit seinen Freunden zusammen war.


Tiscio, der jetzt bei Unterschnitts Kollegen und Freund untergekommen und für das Ehepaar Kargerheim beinahe so etwas wie ein Sohn geworden war, hatte es erheblich schlimmer erwischt. Bis vor kurzem wären sich die drei einige darüber gewesen, dass er es am schwersten von ihnen Getroffen hatte. Als im Winter 61 die schwere Grippeepidemie durch die Stadt gezogen war, hatte es auch seine Familie erwischt, die immer noch bei Vilet Freifrieder wohnte. Die ehemalige Frühlingskönigin hatte sich rührend um Tiscios Mutter und Schwester gekümmert, aber ohne die Kräfte, die sie nur wenige Monate zuvor bereitwillig aufgegeben hatte, konnte auch sie Dori nicht retten, die nach nur drei Tagen dem Fieber erlegen war. Nachdem Erif das Jahr zuvor bei einem Bombenanschlag getötet worden war, zerbrach der Tod ihrer Tochter Tiscios Mutter und sie wandte sich dem Alkohol zu. Vilet hatte Tiscio angefleht, wenigstens für eine kurze Zeit zu ihr zurückzukommen, um seiner Mutter, ihrer Freundin, etwas Halt zu geben. Der angehende Metrowächter hatte jedoch abgelehnt und seine mangelnde Zeit vorgeschoben. In Wahrheit fühlte er sich jedoch schuldig an Doris Tod, so wie er sich auch für Erifs immer noch die Schuld gab. Er war es gewesen, der seine Mutter und zwei seiner Geschwister davon überzeugt hatte, mit ihm bei Vilet zu wohnen und nun waren seine Schwester und Bruder tot, während sein Vater und Frenz, sein zweiter Bruder, immer noch in der Feldstraße am Leben waren. Er konnte seiner Mutter nicht unter die Augen treten, denn er fürchtete, dass sie ihm ebenfalls die Schuld geben würde.

Dass er vor ein paar Monaten auch noch von Mitgliedern der Brennerbande verprügelt worden war, fiel da kaum noch ins Gewicht. Anfänglich hatten sie befürchtet, dass der alte Konflikt wieder aufgebrochen wäre, es hatte sich jedoch herausgestellt, dass Tollsachs, Tiscios alter Feind, das Geld, dass die Feldstraßler jeden Monat Schikmo zusandten, für sich selbst eingesackt und die Schuld Tis in die Schuhe geschoben hatte. Skimir, ein Freund der drei, hatte Schikmo die Hand zertrümmert und die ehemaligen Bandenmitglieder zahlten immer noch das Wergeld für die Gunst, nicht beständig über die Schulter blicken zu müssen. Seitdem hatte Tiscio Tollsachs im Visier. Das der Brennerbursche inzwischen auch anderweitig seine kriminellen Energien auslebte, spornte den Wachtmeisteranwärter nur noch zusätzlich an, ihn endlich hinter Gitter zu bringen.


Als dritter im Bunde saß Gunnar am Tisch. Oberflächlich betrachtet hätte es ihm bis vor kurzem noch mehr als gut gehen können, wenn da nicht eine sehr unschöne Geschichte gewesen wäre, über die jedoch keiner zu sprechen wagte. Unglücklicherweise hing diese Geschichte mit Alwald zusammen, einem Mädchen in Gunnars Alter, mit dem er inzwischen so viel Zeit verbrachte, dass er sie sogar zu ihren wöchentlichen Runden mitbrachte, sehr zum Missfallen seiner Freunde. Er hatte sie an der Universität kennengelernt, wo sie als eine Art persönliche Hilfe seines Professors gearbeitet hatte. Im Grunde bedeutete dies, dass sie sein Zimmer sauber hielt, Botengänge erledigte und bei den Experimenten half. Es war also im gar nicht so anders als das, was Malandro tat, bis hin zu dem Umstand, dass sie beide nicht darüber sprechen durften.

Sie war ein hübsches und vor allem kluges Mädchen, das über die wissenschaftliche Arbeit des Professors vermutlich mehr wusste als Gunnar, weswegen es besonders traurig war, dass Frauen an der Universität weder als Studentinnen noch als Professorinnen zugelassen wurden. Gunnar hatte sich, bevor er sie kennengelernt hatte, niemals Gedanken darüber gemacht, teilte inzwischen jedoch Alwalds Zorn über diese Ungerechtigkeit.

Dann war jedoch der Professor gestorben. Es hieß, er sei in seinem Arbeitszimmer, das gleichzeitig als sein Labor diente, gestürzt, auch wenn ein paar Studenten immer noch behaupteten, es wäre ein Mord gewesen. Gunnar hatte jedoch schon sehr früh gelernt, dass Studenten einen morbiden Sinn für Humor hatten, weswegen kaum etwas auf diese Gerüchte zu geben war. Trotzdem war schon damals Gunnars Leben ein wenig aus den Fugen geraten, denn zum ersten Mal hatte er sich für eine kurze Zeit auf der falschen Seite des Gesetzes befunden. Es war zwar nur ein genereller Verdacht gegenüber allen Mitgliedern der Universität gewesen, den die Bertis automatisch gehegt hatten, aber jeder der Gunnar kannte, hatte seine Unruhe bemerkt. Außerdem konnte man kaum vom jüngsten Studenten der Stadt erwarten, dass er den Tod seines Professors einfach so wegsteckte, selbst wenn sich das Gerücht hielt, dass er Unterschnitt bei der Aufklärung der Terroranschläge geholfen haben sollte und daher schon mehr von der Unterwelt der Stadt gesehen haben sollte, als jeder andere an der Universität.

Der Tod eines Professors hätte aber bei weitem nicht ausgereicht, um ihn auf der Unglücksrangliste der kleinen Gemeinschaft auf die Spitzenposition zu hieven. Diese zweifelhafte Ehre war ihm erst vor einem Monat zu Teil geworden, als er nach einer Spritztour mit seinem zweirädrigen Dampfwagen in die Werkstatt seines Vaters zurückgekehrt war und dort den Erfinder mit eingeschlagenem Kopf vorgefunden hatte.


An ihren Kneipenabenden würden sie nicht über den Mord sprechen, soviel hatte Gunnar ihnen unmissverständlich zu verstehen gegeben, als er bei Malandros erstem Versuch seinen Krug so hart auf den Tisch geschlagen hatte, dass er zerbrochen war. Die funkelnden Augen in dem bleichen Gesicht hatten die Botschaft nur noch unterstrichen. Einzeln hatte jeder von ihnen jedoch bereits mehrere Gespräche mit ihrem Freund geführt und sie gaben sich die größte Mühe, ihn und seine Mutter so gut wie möglich zu unterstützen. Finanziell schienen sie zwar keine Probleme zu haben, da Gunnar fast Übergangslos die Aufträge seines Vaters übernommen hatte, aber selbst seine Mutter, der man ihren Kampf mit ihrer eigenen Trauer in jedem Moment ansehen konnte, hatte seine Freunde aufgesucht, um sie um Hilfe für ihren Sohn zu bitten.

Allerdings schien nur Alwald noch zu wissen, was in ihm vorging, weswegen Tis und Mal ihr inzwischen die Zeit, die Gunnar mit ihr verbrachte, besser verzeihen konnten.


Wie schon die letzten Abende wollte kein rechtes Gespräch aufkommen. Über die Begrüßungen und ein paar Worte zu dem, was sie die letzten Tage getan oder auch nicht getan hatten, fand sich kein Thema, dass unverfänglich genug erschienen wäre. Zu sehr waren ihre Gedanken bei dem ungeklärten Mord. Selbst Malandro und Tiscio beschäftigten sich in jeder freien Minute damit. Mal als Lehrling des größten privaten Ermittlers der Stadt, der selbst ein Interesse an der Aufklärung des Mordes an einem seiner ältesten Freunde hatte, half seinem Meister bei seinen Recherchen. Tis auf der anderen Seite nutzte jede Gelegenheit, um während seiner Streifen die Bürger zu befragen und während des Bürodienstes jede Akte zu studieren, die er in die Hände bekommen konnte. Sein Vorgehen war nicht ganz ohne Risiko, da es dazu führte, dass er oft später als erwartet mit seinen Aufgaben fertig wurde. Es hatte aber den unerwarteten Effekt, dass er mehr über seine Strecke und die Arbeit mit den Akten wusste, als seine Vorgesetzten zu hoffen wagen konnten.


Alwald hatte während dieses Abends mehrfach versucht, die Jungs zu einem Gespräch zu ermuntern, erreichte jedoch nur, dass Gunnar sich bereits einer Stunde erhob, um sich zu verabschieden. Das Paar verließ die Walkriede, ohne sich noch einmal umzublicken oder von ihren Freunden dabei beobachtet zu werden.


"Grabenschleim", flüsterte Malandro in sein Bier, sobald er die Tür über den Kneipenlärm zuschlagen hörte.

"Gewaltiger Grabenschleim", bestätigte Tiscio seinen Freund. Sie nickten sich zu und tranken den Rest ihrer Biere mit einem Schluck aus.

"Bevor sie da war, war's alles besser."

"Meinst'e? Denk nicht‘ dran. Ich hab mir zum Beispiel grad vorgenommen, freundlicher zu ihr zu sein. Als Metrowächter is man ja zu was verpflichtet."

"Dann sei halt freundlich, du alter Berti. Trotzdem war's besser."

"Ohne sie würde Gunnar wohl gar nichts mehr rauslassen."

"Ohne sie wäre Gunnar getze nich' so."

"Sein Vater wäre trotzdem gestorben."

"Du weißt, was ich mein."

"Ja, ich weiß." Sie schwiegen einen langen Augenblick, in dem Tiscio die Hand hob, um noch zwei Bier zu bestellen.

"Ne, lass, hab kein Geld mehr."

"Lad dich ein", grummelte Tis und zeigte zwei Finger. Malandro nickte nur.

Erst als die beiden Krüge vor ihnen standen, begann Malandro wieder zu sprechen.

"Ich hät's ihr angehängt."

"Nicht, wenn du Gunnar wärst. Du bist echt so eine bastige Nutnase."

"Hey, brauchst nich gleich beleidigend zu werden. Wenn ich kein Herr wäre, würde ich dir jetzt einen auf die Nuss geben."

Vor ein paar Monaten hätten sie vielleicht noch über Malandros Anwandlungen gelacht, jetzt war ihnen jedoch nicht mehr zum Lachen zu mute.


Die Jungen aus der Feldstrasse