Die Brennerbande, Teil 91


Sie machten sich frühzeitig auf den Weg in die Hetradostei. Tiscios Mutter ging es weniger schlecht als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Sie war schwach und schwankte, konnte den Weg aber überwiegend allein schaffen, ohne sich all zu sehr auf einen der Arme der beiden Jungs lehnen zu müssen. Trotzdem legten sie immer wieder Pausen ein, die Pinta niemals gefordert hätte, jedoch immer dankbar annahm. Dabei sahen Gunnar und Tiscio immer wieder über ihre Schultern und betrachtete jeden misstrauisch, bis sie außer Sichtweite waren. Ihnen war nicht wohl auf der Straße, nur zu zweit - Pinta zählten sie nicht mit - und unbewaffnet. Es hatte bereits an diesem Tag einen Anschlag auf sie gegeben, wer sagte, dass es keinen zweiten geben würde.
Vor dem Tempelhof setzten sie sich auf eine der Mauern, die die Stufen begrenzten, und aßen die Würstchen im Schrippen, die sie sich unterwegs im Hafen gekauft hatte. Anschließend geleiteten sie Pinta zum Eingang des Gefängnisses, wo sie von dem bunten Wächter unfreundlich begrüßt wurden. Als Pinta ihren Namen nannte, ließ er sie hinein, hielt die beiden Jungs jedoch mit vorgehaltener Hand davon ab, ihr zu folgen. So gingen die beiden wieder zurück zur Treppe und starrten in den riesigen Vorhof der Hedradostei. Begrenzt von zwei gewaltigen Gebäuden führte er die Augen auf den Gewaltigen Tempel zu. Ein langer Weg, den einige Gläubige noch verlängerten, indem sie ihn auf den Knien zurücklegten. An anderen Tagen hätten sie sich vielleicht über die Kriechenden amüsiert und entsprechende Sprüche gemacht. Heute waren sie zu sehr dadurch abgelenkt, ihre Umgebung im Auge zu behalten.

Auf der linken Seite des Hofes lagen die Unterkünfte der Priesterschaft, ein Prachtbau mit Säulengängen und großen, wertvollen Türen. Selbst die Gitter vor den Fenstern waren kunstvoll gefertigt.
Das Gebäude auf der anderen Seite war nicht hässlich, konnte sich aber nicht mit seinem Gegenüber messen. Auch hier waren die Fenster vergittert doch dienten sie weniger dazu, die Gläubigen draußen, als vielmehr die Häretiker drinnen zu halten. Es enthielt im untern Stockwerk unter anderem die Quartiere der Wächter, im oberen die Gefängniszellen. Natürlich war das nicht alles, aber mehr wussten die Feldstraßler nicht über das einschüchternde Bauwerk.
Sie versuchten sich unauffällig zu verhalten, während sie auf die Rückkehr von Tiscios Mutter warteten, fingen aber immer wieder die Blicke des Wächters ein. Gelegentlich schwang die Mündung seines Dampfrepetierers in ihre Richtung, ohne dass er auf sie zu achten schien. Selbst Gunnar, der für gewöhnlich jede Tat eines Bertis zu rechtfertig wusste, wurde mit der Zeit unwohl auf den Stufen. Trotzdem wagten sie nicht, sich zu weit zu entfernen, damit sie nicht Pinta verpassten, sobald sie durch die eisenbeschlagene Tür wieder zurückkehrte.
Endlich erschien sie, bedankte sich bei dem Wächter und wankte auf die Jungs zu. Diesmal stützte sie sich bei beiden gleichzeitig auf.
"Gut, dass ihr da seid."
"Wie geht's dir, Mutter?"
"Ach, es ging mir schon besser, aber nachdem ich Vilet gesehen habe, fühle ich mich richtig erleichtert."
"Und wie geht's Vilet?"
"Die Gute. Sie macht sich mehr Sorgen um uns, als ihr euch vorstellen könnt. Es scheint ihr nicht schlecht zu gehen. Sie ist eine so starke Frau."
"Könnten wir uns vielleicht auf den Heimweg machen. Dann kann der Tempelwächter endlich aufhören, uns anzustarren."
"Warte noch, Gunnar. Ich muss euch erst noch etwas erzählen."
"Geht's nich' auf'm Weg? Der", damit machte er eine Kopfbewegung in Richtung des Wächters, "is‘ irgendwie unheimlich."
"Nein, Tiscio. Ich erzähle es euch jetzt und hier. Denn es könnte sein, dass ihr noch etwas hier tun müsst." Während sie sprach, richtete sie sich immer weiter auf und kam allein zu stehen.
"Dann lasst mich kurz überlegen. Vilet hat nämlich eure Fragen beantwortet, und ich hoffe, ich kriege ihre Antworten noch richtig zusammen." Sie blickte zu einem der Gefängnisfenster hinauf, um sich zu sammeln.
"Also gut. Vilet sagt, wenn sie nicht herauskommt, gibt es keine Möglichkeit, den Winterhirten aufzuhalten. Sie hofft jedoch, rechtzeitig das Gefängnis verlassen zu können. Dann hat sie gesagt, dass sie sich hat gefangen nehmen lassen, damit sie nicht getötet wird. Sie hätte beinahe geweint, als sie das gesagt hat, denn sie wäre lieber an Stelle ihrer Freunde gestorben, aber ihr wisst schon, wegen des Winterhirten konnte sie das nicht auf sich nehmen. Und aus demselben Grund hat sie auch keine Helfer geweiht. Sie wären die ersten gewesen, die bei den Anschlägen ums Leben gekommen wären. Sie sagt aber auch, dass sie jetzt bereit ist, einen von euch zu weihen, wenn ihr das wollt, weil euch das vielleicht helfen wird. Schließlich seid ihr einfach nicht davon abzubringen, euch in Gefahr zu begeben."
"Weihen? Wie will sie das machen?"
"Und was bedeutet das dann?"
"Ich weiß es nicht, was es bedeutet. Aber wie, dass hat sie sich schon überlegt. Wenn ihr es tun wollt, dann muss einer von euch sich unter ihr Fenster stellen und zweimal Pfeifen. Und dann macht sie es schon."
"Das geht jetzt 'n bisschen schnell. Wir sollen uns weihen lassen, ohne zu wissen, was das bedeutet?"
"Ich muss zugeben, dass ich den Gedanken nicht so schlimm finde, allerdings würde ich sagen, dass du es machen solltest. Du hilfst ihr ja sowieso immer und ich habe nicht so viel mit ihr zu tun. Wenn ich ehrlich bin, fand ich sie immer wenig schrullig?"
Tiscio blickte Gunnar erstaunt an, kam aber nicht mehr dazu, ihm seine Meinung zu geigen, da seine Mutter ihm zustimmte.
"Ich denke auch, dass du das machen solltest. Ich glaube auch, dass sie an dich gedacht hat, als sie es vorschlug."
"Mutter!"
"Sag das nich' so entsetzt. Ich mein' ja nur."
Tiscio sah die beiden ungläubig an, man konnte jedoch sehen, dass er sich langsam mit dem Gedanken anfreundete. Schließlich nickte er, woraufhin seine Mutter ihn bei der Hand nahm und in Richtung des Tempels führte. Auf dem Weg dorthin erklärte sie, was zu tun war und als sie nah genug bei Vilets Fenster waren, ging Tiscio in die Hocke um scheinbar seine Schnürsenkel zuzubinden. Gunnar und Pinta setzten derweil ihren Weg fort.
Mit offenem Schnürsenkel hüpfte Tiscio in Richtung des Gefängnisgebäudes, bis er unter den Gittern stand. Dabei war er sich immer der auf ihn gerichteten Augen einiger Wächter bewusst. Er versuchte sich unauffällig umzusehen, wobei ihm reichlich mulmig wurde. Doch selbst an diesem Arbeitstag überquerten viele Menschen den Platz und irgendwer würde ihn immer beobachten.
Er Pfiff seine beiden Töne und richtete sich auf.
Sofort hörte er Vilets Stimme, war sich aber nicht sicher, ob der Klang tatsächlich durch seine Ohren zu ihm gelang. "Ist die göttliche Macht die einzige göttliche Kraft?" Er blickte auf und sah ein Paar Hände aus den Gittern direkt über seinem Kopf herausragen. "Ja?" Seine fragende Antwort erschien selbst ihm nicht angemessen, weswegen Vilets Wiederholung ihn wenig überraschte: "Ist die göttliche Macht die einzige göttliche Kraft?" Beim ersten Mal hatten die Worte ernst und feierlich geklungen. Diesmal war er sich jedoch nicht sicher, ob nicht auch ein Hauch Verärgerung mitklang. Er gab sich deswegen große Mühe diesmal bestimmter zu klingen: "Ja."
"Nimmst du die Verantwortung an?"
Tiscio war sich nicht sicher, welche Verantwortung gemeint war, aber viel schlimmer als ein Hauptziel für Mordanschläge zu sein, konnte es kaum werden. Ein überzeugtes "Ja" fiel ihm deshalb auch leicht.
"Dann weihe ich dich im Namen der göttlichen Macht." Für einen Augenblick lehnte Tiscio etwas enttäuscht an der Mauer, dann durchzog ihn ein kribbeln, dass seine Glieder zucken ließ. So schnell wie es gekommen, war es auch wieder vorbei und Tiscio wusste, dass er gehen durfte.
Anschließend ging er mit langen Schritten zum Tempel, wo Gunnar und seine Mutter bereits auf ihn warteten. Sie knieten an einer der Bänke, aber Tiscio zweifelte dass sie beteten. Vielleicht seine Mutter, aber falls sie es tat, wohl nicht zu Hetrados.
Sobald sie ihn sahen, standen sie auf und Pinta kam mit einem stolzen Lächeln auf ihn zu. Sie umarmte ihn, während er es mit einem peinlich berührten Lächeln über sich ergehen ließ.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 04