Die Brennerbande, Teil 89


Die Tür wurde wie immer von Soldrang geöffnet. Es dauerte jedoch überraschend lange, bis er erschien, und er wirkte blass und fahrig. Die beiden Jungs achteten kaum darauf und gingen die Stufen zu Unterschnitts Tür hinauf. Soldrang folgte ihnen und hielt sie vom Klopfen ab: "Herr Unterschnitt ist derzeit ausser Haus." Seine Stimme zitterte, aber auch das fiel den beiden nicht auf.
"Grabenschleim! Nie is' er da, wenn man ihn braucht."
"Stimmt doch gar nicht. Außerdem brauchen wir ihn gar nicht so dringend. Ich schreib was auf den Beutel und dann geben wir es ihm später."
"Dann hol ich mir was zu beißen." Tiscio drehte sich um und stapfte die Stufen wieder hinunter und weiter in die Küche. Zu seiner Überraschung war diese leer. Er ging vorsichtig um den Tisch herum, um vielleicht zufällig etwas auf einem der Tische zu finden. Er fand stattdessen Deera vor ihrem Herd auf der Erde liegend.
"Gunnar!" Tiscio hockte sich neben die Haushälterin und schaffte nur unter Anstrengung sie auf den Rücken zu drehen. Erschrocken zuckte er zurück, als er den Schaum vor ihrem Mund sah. "Gunnar! Komm schnell!" Sie waren Stadtjungens, deswegen kannten sie Tollwut nicht. Aber die Auswirkungen von Gift hatten sie immer wieder auf den Straßen gesehen.
Aufgeschreckt von Tiscios panischen Rufen polterte Gunnar die Treppe hinunter. Auch er hockte sich neben den Körper. Sein Vater hatte ihm ein bisschen was über die den menschlichen Körper beigebracht, denn bei der Arbeit mit Dampfmaschinen und den ambarischen Gerätschaften konnte und war auch bereits zu viel geschehen. Immer wieder mussten Verbrennungen und Schnittwunden behandelt werden. Für die ganz harten Fälle, hatte ihm sein Vater aber auch das Erfühlen des Pulses beigebracht. Er hatte wohl Angst, eines Tages einen Unfall zu haben, so dass sein Sohn ihn in der Wergstatt finden würde.
Gunnar begann am Hals der Frau herumzutasten, zuerst dort, wo er den Puls erwartet hatte, dann nahezu überall.
"Ich glaube, sie ist tot … Herr Soldrang!"
Erneut benötigte der Buttler mehr Zeit für seinen Weg als die Feldstraßler erwartet hätten. Sie warteten ungeduldig und diesmal fiel ihnen auf das aschfahle Gesicht des Mannes auf. Er musste sich abstützen, während er auf den Körper schaute. Still verharrte er in dieser Position, bis er die Situation endlich erfasst zu haben schien.
"Wenn ich mich recht erinnere, Herr Canil, wissen sie, wo Dr. Zaltis wohnt?"
Tiscio nickte und sprang auf. "Hol ihn!" Damit rannte er aus der Küche heraus, auf die Straße und zum Haus des Arztes, zu dem Herr Kargerheim sie einmal geschickt hatte, als Skimir noch regelmäßig mit ihnen unterwegs gewesen war und sich verletzt hatte.
Während er die Konditorgasse hinunterrannte, bemerkte er, dass auf den Stufen zu Nummer 16 ein Mann lag. Er bewegte sich nicht aber Tiscio wollte nicht stehenbleiben. Stattdessen rief er in die offene Tür: "Jemand verteilt Gift." Danach hörte er mit dem Rufen nicht mehr auf, bis er an die Tür des Arztes klopfte.
Eine rundliche Frau öffnete die Tür und blickte ihn misstrauisch an. "Doktor Zaltis hat Patienten. Komm später wieder."
"Sind Leute vergiftet worden. Deera ist tot und Soldrang geht es auch schlecht." Tiscio stutzte. Er war die ganze Zeit gerannt und hatte nicht nachgedacht. Wenn Soldrang und Deera vergiftet worden waren, was war dann mit seiner Mutter? Seinen Geschwistern? Was war mit Mal? Mit den Ws?
Die Frau im Türrahmen zögerte, Tiscio hingegen wurde von Panik gepackt, so dass er zu brüllen begann: "Die sterbe in der Konditorgasse! Leute auf der Straße! Mit Schaum vorm Mund!"
"Was ist denn das für ein Krawall!" erscholl plötzlich eine Stimme aus dem Flur. Die Frau gab den Eingang frei und Tiscio konnte die gemütliche Gestalt des Arztes sehen, der seine schütteren Haare mit einer Hand zurückschob.
"Herr Doktor, kommen se schnell! Bei Herrn Unterschnitt sind alle vergiftet."
"Herr Unterschnitt? Kairi, ruf eine Droschke."

Tiscio war sich nicht sicher, ob er nicht schneller zu Fuß gewesen wäre. Vor allem gab ihm die Droschkenfahrt Zeit, sich Sorgen um seine Familie und Freunde zu machen. Trotzdem war die Fahrt ein Ereignis, dass er später mit einem gewissen Stolz den anderen erzählen würde.

Die Tür stand offen. Tiscio hatte sie in seiner Panik beim Rausrennen nicht wieder geschlossen. Er rannte sofort hinein, ohne auf den Arzt zu warten. "Gunnar?"
Sein Freund antwortete ihm aus den Gästezimmern.
"Ich bin bei deiner Familie!"
Gleichzeitig erschien Soldrang im Küchenaufgang, noch bleicher als zuvor. Er blickte an Tiscio vorbei zur Tür hinaus. "Doktor Zaltis. Bitte kommen sie doch herein. Darf ich ihnen den Mantel abnehmen?"
"Soldrang, Mann, setzen sie sich erst einmal. Sie sehen einfach grauenvoll aus." Der Arzt ließ sich trotzdem von dem Buttler aus dem Mantel helfen. Anschließend nahm er ihn am Arm und führte ihn zurück in die Küche, wo er ihn auf einen Stuhl zwang. Er rümpfte die Nase und blickte sich um.
"Verzeihen sie bitte den Gestank. Ich hatte noch keine Gelegenheit, den Eimer hinauszubringen."
"Sie bleiben jetzt erst einmal sitzen. Sie haben das richtige getan." Doktor Zaltis ging um den Tisch herum und betrachtete zuerst den Eimer mit dem Erbrochenen dann die Leiche.
"Wo ist ihr Herr? Herr Unterschnitt?"
"Außer Haus, Herr Doktor."
"Und der Junge erwähnte noch andere Mitglieder des Haushalts."
"Unsere Gäste halten sich im oberen Stockwerk auf. Ich bringe sie hinauf."
"Sie bleiben sitzen. Um die arme Frau kümmere ich mich später. Ich kann hier nicht mehr viel tun. Rühren sie bitte nichts an, solange wir nicht wissen, wie sie sich vergiftet haben."

Tiscio hatte seine Familie in ihren Betten vorgefunden. Alle waren bleich und schwach, aber sie lebten. Anschließend hatte er sich um seine Freunde gekümmert, wo er bereits Gunnar vorfand.
"Ich habe Soldrang zum Speien gebracht. Ich glaube, das hilft."
"Speien?"
"Er meint Kotzen, Tis."
"Woher soll ich das denn wissen? Aber scheint dir ja schon wieder gut zu gehen."
"Mir geht‘s nich' zu schlecht."
Aus dem anderen Zimmer erklang plötzlich die Stimme des Arztes: "Junger Mann, ich würde ihre Unterstützung benötigen."
Tiscio wollte schon aufspringen, als Walde zu sprechen begann:
"Ihr beide müsst nachher mit deiner Mutter mit."
"Was?"
"Warum denn das?"
"Weils wichtig is'."
Gunnar und Tiscio blickten sich an, bis Gunnar die Augenbrauen und Tiscio die Schultern hochzog. "Junger Mann?"
Tiscio tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe und überließ Gunnar die Pflege der anderen. Der Neufeldstraßler wäre ebenfalls gerne gegangen, reichte aber pflichtbewusst Schalen und Eimer herum. Bald würde er wieder auf den Hinterhof rennen müssen, wo sich schon eine recht hübsche Pfütze gebildet hatte. Er selbst hatte bisher an sich halten können, war sich aber nicht sicher, ob dies vorhalten würde.
"Kannst du mir wenigstens sagen, warum es wichtig ist, Walde?"
"Is es halt", sagte das Mädchen und vergrub ihren Kopf unter der Decke. Wenn sie gesünder gewesen wäre, hätte es vermutlich patzig geklungen, so klang es nur kläglich.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 04