Die Brennerbande, Teil 67


Tiscio klopfte etwas zaghaft an die Tür des Gästezimmers, in dem die Frauen untergebracht worden waren.
"Mutter?"
"Tiscio? Warte, ich komme gleich raus."
"Is' Walde auch bei dir?"
"Ich bin auch da."
"Wir sollen ´ne List machen."
"Walde hat mir schon erzählt, dass wir Vilets Freunde warnen müssen."
Tiscio stockte nur ganz kurz. Inzwischen gelang es ihm sogar, nicht erst zu sprechen und sich anschließend über Dinge zu wundern, die Walde getan hatte.
"Ich hab hier ein paar Blätter."
"Wir kommen gleich raus, Schatz."
Zuhause hätte er sich auf die Treppe gesetzt oder an die Wand gelehnt. Beides schien ihm jedoch in diesem Haus nicht angemessen zu sein. So wippte er nervös von einem Fuß auf den anderen Glücklicherweise musste er auch nicht so lange warten, wie er befürchtet hatte. Sie gingen wieder hinunter in die Küche, wo die Köchin, die sich nach dem Frühstück in eine Haushälterin verwandelt hatte, glücklicherweise gerade nicht am Werkeln war.
Keiner von den dreien war ein guter Schreiber, aber Tiscio überließ seiner Mutter gerne die Feder, als sie sich gesetzt hatten. Sie fing auch gleich damit an, die ersten Namen aufzuschreiben, die ihr in den Sinn kamen. Tiscio nickte dazu und Walde blieb die meiste Zeit still, bis Tiscios Mutter Reinherga nannte und sie den Kopf schüttelte. Tiscio sah sie schlimmes ahnend an und berührte seine Mutter am Arm. "Reinherga ist gestern gestorben."
Das Blut wich aus dem Gesicht der Schreibenden und sie strich den Namen wieder.
Nach gut vierzig Namen, zu denen zum Ende hin auch Tiscio beigetragen hatte, fiel ihnen nichts mehr ein. "Mirka meint, ihr habt noch Agleta und ihre Tochter vergessen." Walde blickte auf einen Punkt zwei Köpfe über sich und nickte leicht, so als würde sie jemandem zustimmen, der dort stand. "Ja, die große Urwe und die kleine Urwe." Tiscios Mutter kannte diese Namen, war aber zu erstaunt, um weiterschreiben zu können, bis ihr Sohn sie erneut am Arm fasste, diesmal, um sie zum Schreiben zu ermuntern.
Die Canils waren erleichtert, als die Liste nach einer weiteren halbe Stunde und beinahe 200 Namen fertig war. Tiscio hätte schwören können, dass es mit der Zeit immer kälter in der Küche geworden war, was man sicher mit dem herunterbrennen des Herdfeuers hätte begründen können. Nachdem er jedoch Waldes Blicken durch den Raum gefolgt war und ihm klar geworden war, dass sich die Geister in dem Raum überall um ihn herum drängten, schob er die abnehmende Temperatur eher auf die Horde der unruhigen Toten. Auch seine Mutter war erleichtert, als sie die Küche verlassen konnten und hielt einen unhöflichen Abstand zu dem kleinen Mädchen. Walde fasste beim hinausgehen jedoch noch einmal die Hand des größeren Freundes: "Bitte helft den anderen. Bitte." Sie sah ihn mit so großen und traurigen Augen an, dass er am Ende nur noch nicken konnte und hastig zum Kaminzimmer lief, wo sie sich treffen wollten.

Der Rowenberg war ein seltsamer Stadtteil. Die Feldstraßler kannten ihn ja bereits von ihren Besuchen bei illegalen Boxkämpfen, illegalen Hundekämpfen, illegalen Hahnenkämpfen und anderen illegalen Aktivitäten, bei denen man Geld verlieren konnte, wie Malandro so gerne bewies. Und obwohl sich hier so viel Illegales dank der leeren Lagerhäuser abspielte, war es doch kein schlechter Stadtteil, zumindest, wenn man den Einwohnern glaubte, die sich für besser als die Neustädter hielten, womit sie vielleicht Recht hatten. Dass sie aber auch auf Galgenberger und Gräberfelder hinunterblickten, war schon vermessen, selbst wenn sie es wenigstens körperlich von ihrer Anhöhe aus tun konnten. Der Rowenberg war einst das Vorzeigeprojekt eines reichen Patriziers der Stadt gewesen, der hier seine Clientel untergebracht hatte. Mit dem Geld der Familie Rowenheim schwand jedoch auch der Glanz des Rowenbergs, so dass die Häuser seit vielen Jahren immer weiter heruntergekommen waren. Daher fanden sich gut erhaltene und gepflegte Bauten neben solchen, bei denen man befürchten musste, dass sie in der nächsten Minute einstürzen könnten. Je weiter weg man von der Stadt kam, desto gehäufter fand man ungepflegte Fassaden, bis man zu den Lagerhäusern gelangte, die von Reihen von baufälligen Halbruinen umgeben waren. Allerdings wollte hier auch kaum noch jemand wohnen, weil der Gresgorgraben sein besonderes Aroma auch an guten Tagen bis hier her verbreitete. Auch verließ man an den unteren Hängen bald den Stadtteil und geriet so in einen der beiden Stadtteile, die keinen offiziellen Namen hatten und die überwiegend aus Werkswohnungen, kleineren Werkstätten, Lagerhäusern, Verladeplätzen und einem großen Aufmarschplatz bestanden.
Kargerheim führte sie über den Berg zu einer Straße auf halber Höhe hin zum Graben. Sie hatten sich beeilen müssen, um mit dem alten Mann Schritt halten zu können. Und während er ausgeschritten war, hatte er ihnen immer wieder eingebläut: "Verhaltet euch unauffällig!" und "Er gehört zu den Rittern, mit ihm ist also nicht zu spaßen!" und auch "Lauft lieber weg, bevor ihr euch auf eine Schlägerei einlasst!" Kurz vor ihrem Ziel hatte er sie an einer Häuserecke anhalten lassen und sie ein letztes Mal eingewiesen: "Da vorne links sollte das Haus sein. Seid unauffällig. Wir wissen nicht, ob er bereits da ist oder wieder unterwegs. Viel Glück." Und damit ging er zurück zur Innenstadt.
"Was machen wir jetzt?" Malandro kickte einen kleinen Stein die Straße hinunter. Wie die anderen hatte er die Hände in seine Taschen gesteckt. Das Ergebnis war, dass sie weniger unauffällig als viel mehr wie eine recht rüpelhafte Gruppe jugendlicher Schläger aussahen.
"Was er gesagt hat. Wir bleiben unauffällig." Weitere Steine flogen vor ihnen her, bis sie an der Ecke angelangt waren , von der aus sie das Haus sehen konnten, das ihnen Unterschnitt bereits in der magischen Wolke gezeigt hatte.
"Jetzt aber mal ehrlich: was machen wir jetzt?"
"Hier rumstehen und kucken, wann er kommt."
"Oder geht."
"Genau, oder geht."
"Dann können wir ihn verfolgen."
"Beschatten."
"Aber erst mal bleiben wir hier."
"Und sind unauffällig."
"Genau."
"Wenn wir hier stehen, sind wir aber nicht unauffällig."
Das kurze Gespräch kam zum Erliegen, während sie überlegten, was sie tun könnten. Schließlich schlug Walmo Steinewerfen vor. Also suchten sie sich so viele kleine Steine zusammen, wie sie finden konnten und stellten sich drei Schritte von einer Häuserwand entfernt auf. Normalerweise, wenn sie es gegen Kinder aus einer anderen Bande gespielt hätten, hätten sie dafür Pfennige oder Halbpfennige genommen, zum Zeitvertreib reichten jedoch auch Steine. Gunnar, der seltener mit anderen Kinder gespielt hatte als die anderen, gelang gleich mit dem zweiten Wurf ein Stein dicht an der Wand. Danach hängten ihn die anderen aber immer wieder ab.
Schnell war eine halbe Stunde vergangen und die Mittagszeit durch. Sie waren so in ihrem Spiel gefangen, dass sie erst aufhörten, als sich eine kleine Gruppe von Jungen hinter ihnen versammelt hatte.
"Was macht ihr hier?"
Sie drehten sich um. Die Feldstraßler kannten die Situation. Es war ein Spiel, das man mit Lümmeln aus einem anderen Stadtteil spielte. Sie hatten es oft genug selbst gespielt. Es waren sechs Jungs, einer der kleineren war anscheinend ihr Anführer und hatte die Frage gestellt. Ihre Klamotten waren ordentlicher als die der Feldstraßler, was sie angesichts des Ortes, an dem sie sich aufhielten, wenig überraschte. Wie sie so auseinanderfächerten, bestand kein Zweifel daran, wie die Unterhaltung in der Vorstellung der Rowenberger enden würde.
"Was geht euch das an?"
"Das is unser Viertel hier."
"Wir sind nur zu Besuch."
"Wir wollen euch hier nicht."
"Is gut, sind heute Nachmittag auch wieder weg." Malandro wußte genau, dass es hoffnungslos war. Für die Rowenberger gab es nur zwei Ergebnisse, die für sie diese Begegnung erfolgreich beenden könnten. Das erste war mit einer unangenehmen Schlägerei verbunden, das andere mit der Flucht der Feldstraßler. Für die Feldstraßler hingegen stand fest, dass sie nicht eher vom Rowenberg runter konnten, bis sie nicht diesen Herrn Winrond ausreichend bespitzelt hatten. Eine Schlägerei war dabei das schlechteste, was ihnen passieren konnte.
"Nee, jetz. Haut ab."
"Geht nich. Müssen noch was machen."
Er hätte es kommen sehen müssen, nachdem der Kleine nicht antwortete. Trotzdem erwischte ihn die Faust völlig unvorbereitet und ließ ihn zu Boden gehen. Er konnte gerade noch sehen, wie noch mehr Jungs aus der Straße, die sie eigentlich beobachten sollten, heraneilten, dann schlug sein Kopf auf den Pflastersteinen auf und er verpasste den Kampf.
Die restlichen Feldstraßler fanden sich in einer unangenehmen Unterzahl von mindestens zwei zu eins, so genau zählten sie nicht mehr, nachdem der Kampf erst einmal begonnen hatte. Andererseits waren sie Feldstraßler und keine dummen Rowenberger. Sie hatten mehr Zeit mit Prügeleien verbracht als die einheimischen Lümmel auf der Straße. Hinzu kam, dass die Feldstraßler richtige Arbeit machen mussten und nicht irgendwelche Läden behüteten. Und zu guter Letzt konnte Tiscio einfach los lassen, nachdem er Malandro zu Boden hatte gehen sehen. Was für eine Befreiung: Sie hatte nicht angefangen! Sie verteidigten sich nur. Sie waren im Recht und er kämpfte für sich und seine Freunde.
Dem ersten Gegner, der auf ihn zu stürzte, versetzte er mit seiner Faust einen Hieb gegen den Hals, so dass er sofort zu Boden ging. Dem zweiten rammte er einen Ellenbogen in die Schultern und er hatte das Gefühl, dass etwas unter diesem Schlag zerbrach.
Aber auch die anderen schlugen sich nicht schlecht. Walter boxte einen in den Bauch und Walmo schlug dem Anführer so stark auf den Oberarm, dass dieser sich mit Tränen in den Augen in die zweite Reihe zurückzog. Selbst Gunnar, der zuerst noch einen Hieb gegen die Brust abbekommen hatte, verpasste seinem Gegner einen Schlag an den Kopf, so dass auch dieser sich aus dem Kampf verabschiedete.
Mit vieren ausgeschaltet merkten selbst die Rowenberger, dass der Kampf nicht so gut für sie lief. Ihr Anführer befahl deswegen den Rückzug und die Feldstraßler standen schnell wieder alleine da. Sie sahen sich um. Die Erwachsenen, die eben noch auf der Straße gewesen waren, machten jetzt einen weiten Bogen um das kleine Schlachtfeld.
"Grabenschleim!" Walter schrie es hinaus, was die ältere Frau, die verunsichert zu ihnen hinübergeschaut hatte, zusammenzucken ließ. Tiscio beugte sich zu den beiden hinunter, die er niedergeschlagen hatte, weil er Angst hatte, zu doll zugeschlagen zu haben, aber sie atmeten beide und ihr Stöhnen deutete an, dass sie ihre Schmerzen noch ein wenig länger spüren würden. Gunnar hingegen kümmerte sich um Malandro, der schnell wieder zu sich kam, wobei ihm vor allem der Hinterkopf so sehr schmerzte, dass er meinte, ihn beim Aufstehen festhalten zu müssen.
"Wir müssen weg hier, kannst du gehen?"
"Wird schon."
Walter half Gunnar Malandro zu stützen, während sie sich über den Berg davon machten.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03