Die Brennerbande, Teil 62


In Umkehrung des vorherigen Abends trafen sich die Feldstraßler in der Meergoldstraße vor Kargerheims Haus, um von Frau Kargerheim zu erfahren, dass er bei Herrn Unterschnitt war. Der einzige Unterschied war, dass Frau Kargerheim im Gegensatz zu dem Buttlertyp erfreut war, sie zu sehen, und anscheinend ein wenig traurig, dass sie wieder gingen.
Diesmal war es an Gunnar und Tiscio, sich über den Weg zu ärgern, denn für sie wäre die Konditorgasse auf dem Weg gewesen.
"Bald muss mir Mutter neue Schuhe kaufen. Die Sohlen sind schon ganz abgelaufen." Die alten Feldstraßler blickten auf die Füße ihres Fremdenlegionärs, anschließend auf die eigenen. Gunnars Schuhe waren sauber, die nähte gut erhalten und sie passten vor allem an seine Füße. Ihre eigenen hätte man vielleicht vor zehn Jahren als tragtauglich bezeichnet, inzwischen hatten jedoch so viele verschiedene Füße verschiedener Größe in ihnen gesteckt, dass man sich nicht sicher sein konnte, ob der Fußgeruch der eigene war. Sie alle hatten Löcher, wobei Malandros noch am besten aussahen, da seine Arbeit am saubersten war. So gerne sie Gunnar für seine Worte eine aufs Maul gegeben hätten, hatten sie doch plötzlich das Gefühl, dass sie die Belohnung die sie von Kargerheim erhalten hatten, besser hätten anlegen können. Deshalb kriegte Gunnar nur einen nicht zu harten Schlag von Walter gegen die Schulter: "Du bist so ein Schrat."
Gunnar zog die Schultern hoch und blickte die anderen fragend an, die nur den Kopf schüttelten. Zum wiederholten Male fragte er sich, was er eigentlich bei dieser Gruppe machte. Anstatt durch die Stadt zu laufen und jemanden zu suchen, den er kaum kannte, könnte er an seinem Dampfwagen auf zwei Rädern weiterbauen, oder ein gutes Buch lesen, oder seinem Vater bei einer Erfindung helfen, oder seine Hausaufgaben machen. Am Ende kam er aber meist zu der Einsicht, dass sie irgendwie Freunde waren und diese Suche, die ihn ein bisschen an die Unterschnitt-Hefte erinnerte, viel aufregender war, als alles was er sonst zu tun hatte. Hätte er gewusst, dass seine Mutter es begrüßte, dass er sich abends herumtrieb, dann wäre er vielleicht aus Trotz doch zuhause geblieben. So war es gut, dass sie es nie erwähnt hatte, obwohl sie sich immer darüber freute, dass er nicht mehr so blass war, besser aß und auch ansonsten kräftiger geworden zu sein schien. Sie hätte wohl sogar die Schläge und Knüffe in der Gruppe als Charakterbildend gut geheißen.

Als sie in die Konditorgasse einbogen, sahen sie bereits, dass Herr Kargerheim und Herr Unterschnitt vor der Tür standen und mit drei Männern sprachen. Zwei trugen die Uniform der Metrowacht, der dritte war in Anzug und Zylinder gekleidet. Ein Stückchen weiter die Gasse hinunter wartete eine Kutsche, eine Tür stand offen.
Sie gingen näher, wagten sich aber nicht weiter als fünf Meter heran, was verhinderte, dass sie das Gespräch verstehen konnten, da die Männer mit gesenkter Stimme sprachen. Kargerheim warf ihnen jedoch einen Blick zu, der nicht mehr zu sagen schien, als dass er sie zur Kenntnis genommen hatte.
Schließlich gingen die Besucher zur Kutsche und Herr Unterschnitt zurück ins Haus. Kargerheim hingegen blieb aufrecht auf dem Treppenabsatz vor der Tür stehen und wartete darauf, dass sich die Feldstraßler näherten.
"Es geht weiter, Jungs. Die Umstürzler haben erneut zugeschlagen. Herr Unterschnittt und ich werden gleich nach Burgdorf fahren, um der Metrowacht zu helfen. Ihr seht, ich kann mich jetzt nicht um euch kümmern."
"Herr, wir sind auch nur hier, weil wir Bescheid sagen wollten. Naja, sie hatten Recht und Vilet ist im Tempelknast." Tiscio sprach sehr schnell, weil er Angst hatte, dass Kargerheim ihn unterbrechen könnte.
"Gut gut, können wir jetzt nichts tun. Geht nach Hause. Kommt besser morgen wieder."
Er drehte sich ohne einen weiteren Gruß um und verschwand ebenfalls im Haus.

"Grabenschleim!" Walter trat gegen die Hauswand. "Was machen wir jetzt?"
"Wir könnten in die Pfeife blasen." Walmo wollte schon die ganze Zeit die Pfeife des Engels ausprobieren, bisher hatten sie jedoch noch genug andere Sachen tun können.
"Ich meine, wir können dem Engel sagen, dass Vilet im Tempel ist und er kann sie dann rausholen. Ich finde, das ist schon ziemlich ernst jetzt."
"Aber wir sind nicht in Gefahr," sagte Tiscio, "Wir sollten die doch nur bei Gefahr verwenden."
"Er hat Schwierigkeiten gesagt," berichtigte ihn Gunnar, "nicht Gefahr."
"Was macht das für einen Unterschied?"
Jetzt mischte sich auch Walter ein: "Walmo hat recht. Wir können jetzt eh nichts mehr machen. Wenn der Engel nich was tut, dann kommt nachher dieser Wintertyp und friert hier alles ein."
"Der macht das nich."
"Hat der Engel doch gesagt."
"Ich mein, der Engel holt sie nich raus. Sonst hätte er‘s doch schon getan."
"Aber jetzt weiß er doch, dass sie da ist."
"Wußt er doch vorher schon."
Die Freunde waren mit jedem Wortwechel lauter geworden und standen sich jetzt zu nahe, um noch freundlich zueinander sein zu können. Sie waren zu Müde und von der Sackgasse, in der sie sich plötzlich befanden, enttäuscht.
Nur Malandro war abseits geblieben. Er blickte sich um, bis er die Tür wieder im Auge hatte. "Wir können auch nach Haus gehen. Einen Abend nicht durch die Gegend rennen."
Die anderen brauchten einen Moment, bis seine Worte einsanken.
"Große Idee."
Es gab eine Runde der Begeisterung, selbst Tiscio war erleichtert. "Ich komme nach. Muss noch bei Vilets Schrein Bescheid sagen. Wo seid ihr?"
"Bei uns." Walter stellte es fest und keiner widersprach.
"Dann?"
"Dann."

Gunnar hätte mit den anderen mitgehen könne, aber es verband ihn mehr mit Tiscio, der immerhin in seiner Straße wohnte und, wenn auch widerwillig, mit ihm zusammen zur Schule ging. Zusammen drängten sie sich durch den Tempelbezirk oder ließen sich vom Strom mitreißen, je nachdem, was gerade günstiger erschien.
An Vilets Schrein standen nur zwei Kunden, Pine und Anekren. Mutter und Tochter.
"Tiscio! Das ist aber schön, dass du noch gekommen bist."
"Hallo. Tut mir leid, dass ihr so lange gewartet habt."
"Weißt du, was mit Frau Freifrieder passiert ist?"
"Die Priester haben sie in den Tempelknast gesteckt."
Als beide Frauen ihre Hände entsetzt vor den Mund nahmen, konnte man deutlich sehen, dass sie verwand waren. Tiscio hatte zwar oft genug daneben gesessen, wenn Vilet anderen Trost gespendet hat, war aber selbst nicht besonders gut darin. Bevor er aber zu einem Versuch ansetzen konnte, begann Pine schon wieder zu sprechen: "Aber wenigstens ist ihr nichts passiert, wie Frau Bawalzut und Frau Vola." Zwei weitere von Vilets Anhängern, und natürlich, kannte Tiscio sie. Zwei einfache Frauen, die arm aber ehrlich und sauber zu sein schienen.
"Wieso? Was ist mit ihnen?"
"Du hast doch sicher von dem Giftanschlag in der Universität gehört. Die beiden armen Dinger haben dort geputzt."
"Das wusste ich nicht."
"Wer erzählt schon, was er so arbeitet. Aber man kommt sich ja näher, wenn man hier auf Frau Freifrieder wartet."
"Und beim Markzentrum ist ja auch schon Lipega gestorben, die gute," schaltete sich wieder die Tochter ein.
"Lipega hat mir schon meine Mutter erzählt. Wisst ihr, was sie da gemacht hat? Sie war da doch nicht einkaufen."
"Sie hat da in einem Blumenladen gearbeitet."
"Ach so. Dass erklärt das wenigstens."
"Wann glaubst du denn, wann Vilet wieder zurückkommt."
"Ich weiß es nicht. Die Priester können sie ja nicht ewig einlochen." Als er dies aussprach wusste er plötzlich, dass doch etwas von Vilets tröstender Art auf ihn abgefärbt hatte, denn nach allem, was er erfahren hatte, war es durchaus möglich, dass sie sie für immer in irgend einem Loch vermodern ließen - vorausgesetzt der Winterhirte existierte nicht.
"Das ist eine Erleichterung. Danke, dass du vorbeigekommen bist. Weißt du, einige haben schon aufgegeben. Aber wenn wir ihnen das sagen, dann kommen sie bestimmt wieder zurück."
"Is gut. Ich komm wieder, wenn ich wieder was weiß. Aber ich muss jetzt wirklich wieder los."
"Dann gehen wir jetzt wohl auch nach Hause. Bis Bald Tiscio."
Ohne weitere Umschweife drehte Tisdio sich um und sein Weg aus dem Tempelbezirk glich eher einer Flucht. Diese Anerkennung, die ihm diese beiden Frauen für die paar Worte entgegenbrachten, war ihm ausgesprochen unangenehm. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihn aus lauter Dankbarkeit umarmten.
Bis er jedoch in der Feldstraße angekommen war, hatte sich das Gefühl in eine unbestimmte Unruhe gewandelt, bei der er nicht sagen konnte, woher sie stammte.
Die anderen Feldstraßler hatten sich bei den Ws in der Küche auf den Boden verteilt und scherzten über Bertis, die Herrn Unterschnitt um Hilfe baten, über Menschen, die im Tempelbezirk stundenlang auf falsche Priester warteten und über Schienen, die nicht fuhren. Es waren keine guten Scherze, aber das waren sie selten. Sie dienten nur dazu, sich ein wenig Luft zu verschaffen und mussten nicht besonders lustig sein, um einige Lacher hervorzurufen. Tiscio ließ sich auf den Boden plumpsen. Die anderen unterbrachen nur kurz ihre Unterhaltung. Alle blickten jedoch zur Tür des Nebenraums, als Walde hereinkam.
"Nehmt ihr mich mit?"
"Mitnehmen?" fragte Walter, "Wir sind doch gerade erst wieder da."
"Ihr geht aber doch noch mal weg. Ihr geht doch immer noch mal weg."
"Heute nicht, Walde. Kargerheim hat keine Zeit und wir sind alle. Gibt nichts zu tun."
"Lass gut sein, Walde. Wir gehen nicht mehr," warf auch Malandro ein.
"Ich müsst aber nach Burgdorf."
Die Jungs blickten sie mit großen Augen an. Tiscio fasste sich zuerst, vielleicht weil er durch Vilet mehr mit übersinnlichen Ereignissen in Berührung gekommen war, selbst wenn ihm das nur selten klar war. "Was weißt du von Burgdorf?"
"In Burgdorf sind doch Freunde von Vilet gestorben."
"Freunde von Vilet?"
"Ja, die Freunde, die sie immer in ihrem Tempel besuchen."
"Die Kunden," sagte Tiscio.
"Aber sie kaufen doch gar nichts." Dieser wissende Ton wieder, der klar machte, dass Tiscio sooo dumm war. Es fehlte nur ein abwertendes Kopfschütteln.
"Und woher weißt du schon wieder, von Burgdorf?" Walter war aufgestanden, um seine Schwester zu überschatten.
"Weil sie es mir erzählt haben." Das folgende Schweigen wurde schließlich von Malandro unterbrochen: "Ich wag ja gar nicht zu fragen: Wer?"
"Wer?"
"Ja! wer sind sie? Ich meine die, die es dir erzählt haben?"
"Die Toten."
Walter drehte sich um, er konnte sie nicht mehr ansehen. Er sprach sehr leise: "Das ist Gotteslästerung. Was sollen wir nur mit dir tun. Lass Mutter so was bloß nicht hören."
Sie blickten Walter an.
"Kannst du die Toten sehen, Walde?" Nur Gunnar konnte zu so einem Zeitpunkt so gelassen eine solche Frage stellen, während alle anderen über die Konsequenzen von Waldes Aussage grübelten. Ihre Vorhersagen waren schlimm genug, aber mit den Toten zu sprechen war etwas, dass selbst der König in seiner abgeschwächten Version des hetradonidischen Glaubens als verdammenswerte Sünde verurteilte.
"Ja, aber das ist nicht schön. Sie sehen gruselig aus." Dann fügte sie ganz leise hinzu: "Tschuldigung."
"Warum entschuldigst du dich?" Walmo war jetzt auch aufgestanden, um sich neben sie zu hocken. Er fasste sie sanft an der Schulter.
"Weil ich gesagt habe, dass sie gruselig aussehen."
"Dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen."
"Das ist aber nicht nett, dass jemandem zu sagen."
Erst langsam dämmerte es den Feldstraßlern, was sie damit sagte. Sie kuckten sich ängstlich in dem Zimmer um.
"Die sind gerade hier?"
"Natürlich. Deswegen müssen wir doch nach Burgdorf."
Waldes Äußerung vergrößerte das Unverständnis der Feldstraßler nur. Schließlich versuchte Malandro sich noch einmal darin, Sinn in die ganze Sache zu bringen:
"Wenn sie hier sind, warum sind sie hier und warum müssen wir dann nach Burgdorf, wenn sie tot sind?"
"Sie sagen, dass es wichtig ist. Und dass sie erst dann weggehen." Dann sah sie die Jungs mit großen, flehenden Augen an: "Bitte."
Hätte man sie gefragt, sie hätten immer gesagt, dass sie hart waren. Sie hatten sich mit Brennern, Ingenern und wer weiß noch was geprügelt, Krankheiten ausgestanden, die die Jungs aus der Innenstadt sicher getötet hätten, die Schlägen ihrer Eltern widerstanden und in Fabriken gearbeitet, aber Waldes "Bitte" konnten sie nichts entgegensetzen. Interessanterweise galt diese ganze Härtenummer nicht für Gunnar, der jedoch einfach nach Hause gegangen wäre, statt schon wieder durch die halbe Stadt zu wandern.

Eine Stunde später trafen sie in Burgdorf auf eine Absperrung der Metrowacht bestehend aus dünnen Holzzäunen. Der angespannte Wächter dahinter wies sie mit nervöser Stimme ab, immer einen Blick über die Schulter auf den Soldaten werfend, der ebenfalls die Absperrung bemannte. Die Burg, die diesen Stadtteil wie keinen anderen Xpochs überschattete, beherbergte die Kasernen der örtlichen Garnison und Burgdorf die zugehörigen Familien. Es stand nirgendwo geschrieben, dass die Feldjäger hier Polizeigewalt ausüben durften, aber niemand war bereit, sie darauf hinzuweisen.
Es machte keinen Sinn, zu versuchen, hier durchzukommen, zumal die Moral der Feldstraßler ziemlich am Boden lag.
Auf dem Weg hierher hatte Gunnar ihnen von einem Automaten erzählt, den sein Vater erfunden hatte, der ihnen vielleicht hätte helfen können, einerseits hier herein zu kommen, und andererseits vielleicht eine Spur der Mörder zu finden. Gunnar hatte es als eine dampfgetriebene Nase beschrieben, was seltsame Bilder in den Köpfen der anderen hervorgerufen hatte. Diese Maschine sollte in der Lage sein, Spuren aufzuzeigen und zu verfolgen. Leider war ihnen Herr Kargerheim bereits zuvor gekommen, was den Feldstraßlern wieder einmal zeigte, dass der ehemalige Berti wirklich gute Verbindungen in alle Richtungen besaß.
Zu dieser Enttäuschung kam hinzu, dass Walde ihnen noch ein wenig mehr von den Toten, die zu ihr gekommen waren, erzählt hatte. Dass sie kaum noch hochschaute, hatte ihnen letztlich klar gemacht, dass diese Geister, oder wie man sie auch immer bezeichnen mochte, nicht besonders ansehnlich waren, und die Gründe dafür beflügelten die unappetitlichsten Gefilde ihrer Phantasie. Viel schlimmer wog jedoch, dass Walde wirklich Angst hatte. Denn bei den drei Anschlägen waren bisher 17 von Vilets Freunden gestorben.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03