Die Brennerbande, Teil 49


In der Schiene lehnten sich die beiden an die Türen. "Wir gehen zu Vilet." Tiscio war sich sicher, dass es das richtige war, seine Pflegemutter aufzusuchen. Zum einen konnten noch irgendwo anders Brenner lauern (was er nicht wirklich glaubte), zum anderen hatte er seltsamerweise ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil er sich wieder geprügelt hatte.
"Ne, ich will nach Hause." Gunnar hielt sich immer noch die Seiten, obwohl sie schon ´ne Weile in der Station hatten warten müssen.
"Ach komm, es liegt auf'm Weg."
"Is doch egal. Das war totale Ölgrütze. Ich will nur noch ins Bett."
Fast konnte Tiscio ihn verstehen, nur dass er es noch nicht gewöhnt war, ein Zuhause zu haben, zu dem er zurückkehren wollte. Aber eben nur fast.
"Nein, erst Vilet." Damit war das Thema beendet und sie stiegen bei der Station Ikenierstraße aus, dort, wo die nördlichen Treppen zum Tor des Tempelbezirks, die südlichen jedoch in das Schetach führten, wo der Senat beständig eine Wache der Königlichen Garde unterhielt.
Da es Sonntag war, mußten sie sich durch die Gläubigen kämpfen oder sich von der Menge treiben lassen. Gunner hielt sich im Rücken seines kräftigeren Freundes, grummelte dabei jedoch Sachen wie "viel zu voll hier", "wo kommen die alle her" und "könnte jetzt ´ne warme Panas haben." Tiscio ignorierte ihn.
Die Schlange an Vilets kleiner Nische war so lang wie immer, wenn nicht sogar etwas länger, denn diejenigen, die schon einmal bei ihr gewesen waren, kamen immer wieder, brachten oft genug jedoch auch noch Freunde mit. Obwohl keiner der Feldstraßler wirklich begriff, was Vilet dort tat, freute sich Tiscio, dass die Frau, die ihn aus der Feldstraße geholt hatte, so beliebt zu sein schien.
Sie drängelten sich an allen vorbei. Vilet warf ihnen einen missbilligenden Bick zu, ließ sie sich aber weiter hinten in der Nische setzen. Glücklicherweise war Tiscios Mutter heute nicht da, um Vilet zu helfen, indem sie kleine Wunden behandelte, mit den Leuten sprach und Panas ausschenkte.
Sie warteten mehr oder weniger Geduldig darauf, dass die beiden Frauen, die gerade bei Vilet saßen, endlich aufstanden. Gerade als Vilet das nächste Pärchen heranwinken wollte, sagte Tiscio schnell: "Sie haben uns angegriffen. Ich konnte nichts dafür."
"Ist schon gut, und jetzt seid still. Trinkt was." Sie schob ihnen eine leere Kanne hin. Tiscio nahm sie und drängte sich zum Brunnen. Früher hätte er wohl gemurrt, inzwischen hatte er den Panas jedoch oft genug geholt, wenn er mit Vilet hier saß. Als er zurückkam feuerte er den kleinen Brenner an, den Vilet in ihrer großen Truhe aufbewahrte, die sie beim Nachbarschrein jeden Abend hinterlegte. Es dauerte eine Weile, bis der frische Panas schließlich fertig war und die ganze Zeit über sah Gunnar mürrisch dabei zu. Inzwischen war die Schlange deutlich kürzer geworden und wenig später war auch der letzte Gläubige nach Hause gegangen. Sie halfen Vilet, ihre Truhe zu packen und trugen sie zum Nachbarschrein. Auf dem Heimweg erzählte Tiscio die ganze Geschichte ihres Kampfes und Vilet musterte ihn kritisch, atmete aber schließlich aus und lächelte ihn an. "Du hast dich nur verteidigt. Das ist gut. Das ist wirklich gut." Ein Stein fiel von Tiscios Herz. Gunnar jedoch sah ihn inzwischen nur noch müde an und schüttelte ganz leicht den Kopf.
Vor der Zirklergasse 4 verabschiedeten sie sich schließlich voneinander und Gunnar ging weiter zur 13, während sie die Treppe zur Wohnung hochgingen. Als sie auf dem Treppenabsatz vor ihrer Eingangstür ankamen, griff Vilet nach dem Türgriff, ließ dann jedoch ihre Hand wieder sinken. Sie hob ihren Zeigefinger an die Lippen und deutete anschließend auf das kleine Fenster der Tür. Es war dunkel. Tiscio runzelte die Stirn. Tiscios Mutter sollte eigentlich zu Hause sein, genauso wie seine Geschwister. Seine Mutter ließ aber immer ein Licht an, wenn Vilet oder Tiscio noch nicht zuhause waren. Was natürlich nicht bedeutete, dass sie nicht vielleicht noch mal rausgegangen sein könnten. Aber es war ziemlich doch ungewöhnlich.
Vilet öffnete die Tür und machte einen Schritt zurück, so dass sie gegen das Geländer stieß. Tiscio stellte sich neben sie. Die Tür vom Flur zur Stube stand offen. Plötzlich ging das Licht auf dem Wohnhzimmertisch an und sie konnten Tiscios Mutter auf dem Stuhl neben dem Tisch sitzen sehen. Neben ihr stand ein Mann mit einer Melone auf dem Kopf und einem Tuch vor Mund und Nase. Er blickte überrascht auf die kleine Lampe, deren Licht den Raum in gleißend helles Licht tauchte. Für Tiscio gab es kein Halten. Vilet griff noch nach ihm, aber seine Mutter neben dem vermummten Mann ließ ihn jegliche Vorsicht und jeglichen Vorsatz vergessen. Er stürmte durch die Eingangstür und die Tür zur Stube auf den Mann zu und stieß so hart gegen ihn, dass er ihn bis an die Wand zurückdrängte. Ein altes Bild viel herunter und zerbrach beim Aufprall. Er konnte die Bewegungen hinter sich spüren, nahm aber keine Notiz von ihnen, während seine Hände immer wieder auf den Mann eindroschen. Es dauerte nicht lange, bis der Mann ihn von sich wegdrückte und seinerseits ausholte. Erst jetzt sah Tiscio das Klappmesser, in der linken Hand des Schlägers. Er wich zurück und warf einen Blick über seine Schulter in Richtung Vilets, die gerade einem Mann auswich, der sich auf sie stürzen wollte. Er gab einen kurzen Schrei von sich, als er über das Geländer stolperte. Im gleichen Moment stieß der Schläger mit seinem Messer zu. instinktiv wehrte Tiscio den Stich mit der linken Hand ab. Die Klinge glit zwischen den Finger durch, verletzte ihn aber nicht. Nun war es an Tiscio, überrascht zu sein. Er blickte auf, während der Mann seine Klinge zurückzog. Mit einem Schrei holte Tiscio erneut aus und traf den Mann an der Kehle, so dass er röchelnd zu Boden ging. Im selben Augenblick traf ihn ein Schlag von hinten am Hinterkopf, der ihn nach vorne taumeln ließ, ohne jedoch wirklich zu schmerzen. Als er sich umdrehte, sah er den Totschläger in der Hand eines weiteren vermummten Angreifers.
"Tiscio! Raus da!" Vilet winkte ihm von der Tür, während ein weiterer Mann auf sie zustürzte.
Es war ein etwas skuriles Schauspiel, wie Vilet die Treppe herunterlief, gefolgt von einem Angreifer, dem wiederum Tiscio hinterherlief. Er duckte sich unter einem weiteren Schlag und rannte wieder zur Tür hinaus. Vilet stand bereits am Fuß der Treppe und blickte dem Schläger entgegen, der auf der ersten Stufe ausrutschte und polternd die nächsten 16 hinunter fiel. "Das Geländer!" Er konnte später nicht sagen, warum, aber er wusste sofort, was zu tun war. Er sprang auf das wacklige Geländer und rutschte etwas unsicher nach unten. Ein weiterer ihrer Angreifer stürzte aus der Tür und versuchte die Treppe herunterzulaufen. Auch er rutschte auf der zweiten Stufe aus und polterte auf dem Rücken nach unten, während sein Kopf auf jede Stufe aufschlug.
Tiscio stand wie hypnotisiert dort und sah dem Mann bei seinem Weg nach unten zu. Vilet zog ihn weiter zurück und begann jetzt aus vollster Kehle zu schreien: "Einbrecher! Mörder! Banditen!" Sie wiederholte es noch ein paar Mal, bis nahezu gleichzeitig in einigen Häusern der Straße Lichter angingen, die letzten beiden Schläger aus dem Haus kamen und eine Pfeife der Bertis irgendwo in einer anderen Straße zu hören war. Auch diese beiden Angreifer versuchten ihr Glück auf der Treppe und folgten ihren Freunden unsanft nach unten.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03