Die Brennerbande, Teil 42, Einschub 4


Vorsichtig ging Vilet auf ihn zu, breitete die Arme aus und nahm ihn in ihre Arme. Zuerst wehrte er sich noch dagegen, schmiegt sich dann aber doch tatsächlich für einen kurzen Moment an sie, bis sie sich wieder von ihm löste.
"Du musst nicht alles richtig machen, aber du hast schon etwas richtig gemacht. Weißt du was?"
Tiscios Augen wanderten langsam ihren Körper hoch zu ihrem Gesicht. Er musste erst schlucken, um mit belegter Stimme raten zu können: "Ich hab‘ nicht zugeschlagen und bin wiedergekommen?"
Vilets Lächeln offenbarte echte Freude: "Und weißt du was: Ich wusste, dass du nicht zuschlagen würdest. Du kannst dich nämlich besser beherrschen, als du selber glaubst."
Tiscio sah Vilet prüfend ins Gesicht, um dort die Häme zu finden, die er so gewöhnt war, konnte jedoch keine finden. "Ich wollt‘s nicht wahrhaben, dass sie das ernst gemeint haben. Haben sie doch nicht, oder?" Seine Hände nestelten an den Jackentaschensäumen.
"Ist das wichtig? Du hast nur deine Hände zusammengeballt und doch nicht zugeschlagen. Du hast dich beherrscht."
"Ja, weil ich doch irgendwie wusste, dass sie's nicht so meinen." Tiscio zögerte. "Und wenn, dann nicht, um sich über mich lustig zu machen, sondern, weil sie," er suchte nach den richtigen Worten, "weil sei mir helfen wollen." Er nickte, so als wollte er sich seine Worte bestätigen. "Aber die anderen meinen‘s so," fügte er resigniert hinzu.
"Die meisten wissen gar nicht, was sie meinen. Sie wollen dich nur ärgern. Sie sind nicht anders als ich. Sie wollen etwas bei dir erreichen. Aber ich denke, wenn es dir nichts ausmacht, dann hole ich zum nächsten Mal einen meiner Besucher dazu. Der kann etwas, was dich evtl. interessieren könnte."
Neugierig sah Tiscio Vilet an. "Klar doch, gerne!" Sein Gesicht verdüsterte sich. "Aber ich kann erst übermorgen wieder herkommen, vorher gehts nich." Vilet nickte. Bevor sie jedoch etwas antworten konnte, setzte Tiscio seine Gedanken fort: "Och versteihs noech neich, se wäissen doech, 's ech ohnen nin por knall, win's mech oergin." Er fiel in den Neustädter Dialekt, versteifte die Worte so, dass Vilet Mühe hatte, ihn zu verstehen. "Wes kenn och dinn iben bs da, gebts wis, ds och nebn houen tun ken?"
Vilet lachte ihr beruhigendes Lachen: "Stell dir vor, es wäre ich, den du da schlagen müsstest, wenn jemand dich ärgert."
Nicht sehr überzeugt nickte er. „Wills probieren.“ Sie machten eine Zeit ab bevor er sich auf den Heimweg machte. Bevor er ging, zögerte einen Moment, nickte ihr kurz zu und verschwand.

Zum nächsten Treffen kam Tiscio überpünktlich und musste deshalb etwas länger warten, als ihm lieb gewesen wäre. Ungeduldig spähte er an den wartenden vorbei, um zu sehen, ob der geheimnisvolle Besuch bereits bei Vilet saß. Endlich kam die Reihe an ihn und er begrüßte Vilet, bis sie einen Blick auf seine Hand warf, die dick und geschwollen in der ihren lag. Auf ihren fragenden Blick antwortete er hastig: "Das ist in der Fabrik passiert. Hab sie mir ordentlich gestaucht, nicht so schlimm. Gekloppt habe ich mich nur einmal, mit Walter, aber der hatte es auch verdient. Und als Walmo ihn verteidigt hat, hab ich nicht zurückgehauen." Aufgebracht fügte er hinzu: "Walter hat gesagt, du wärst ´ne Vettel und ich dein Wasserträger."
Vilet winkte Tiscio auf ein Kissen und gab damit den Blick auf einen alten Mann neben ihrem Platz frei. Bei genauerer Betrachtung allerdings handelte es sich bei dem Mann jedoch um einen Schrat, einen breitgesichtigen, spitzohrigen, pelzigen Mann, dessen Volk in Xpoch nicht besonders hoch geachtet wurde. Während Vilet sich zur Begrüßung erhoben hatte, blieb er auf seinem Platz.
"Dies ist Chanu. Seinen richtigen Namen kann ich leider nicht aussprechen und er hat mich gebeten, es auch nicht wieder zu versuchen. Er war einst ein Priester einer der verschwundenen Gottheiten."
"Möge die Frühlingskönigin dir immer holt sein." Die Rauhe Stimme des Schrats klang nicht unfreundlich, dennoch warf Vilet ihm einen bösen Blick zu. Dann wandte sie sich wieder ihrem jungen Gast zu: "Zeig mal deine Hand her." Keinen Widerspruch duldend zog sie Tiscios Hand zu sich herüber und betrachtete sie, bevor sie sie mit ein wenig Wasser säuberte und einen leichten Verband anlegte.
"So, hast du dich also doch nicht beherrschen können? Wenn er wieder so´was sagt, dann sag ihm einfach, dass er in einer Wüste nichts sehnlicher erwünschen wird, als einen Wasserträger. Oder, um nicht so weit fortzugehen: Ohne den Wasserträger würden die meisten Maschinen nicht laufen. Über das Alter einer Frau schweigt man jedoch besser." Von Chanu war ein glucksendes Lachen zu hören, was ihm einen erneuten Blick Vilets eintrug. "Aber genug geschwatzt. Chanu will dir etwas zeigen."
Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, zündete der alte Schrat sehr zeremoniell eine kleine Kerze an und beugt sich zu Tiscio rüber. "Hör mir gut zu, mein Junge. Ich bin alt, viel älter als du jemals werden wirst. Deshalb erbitte ich mir Respekt und verlange, dass du keine dummen Fragen stellst, sonst wird nichts aus der ganzen Geschichte hier. Verstanden?" Seine braungrünen Tieraugen ließen Tiscio einen Schauer den Rücken herunterlaufen. Schnell nickte er und richtete dann hastig seinen Blick auf den frischen Verband.
"Ich höre zu, Ehrenwort."
Chanu fiel in einen lehrerhaften Ton, der vermuten ließ, dass er schon früher junge Männer unterrichtet hatte.
"Sitz erst Mal still. Und entspann dich. Nein, nicht so. Strammer, aber nicht verspannen. Mach den Rücken grade ..." Auf diese Weise ging es mehrere Minuten weiter. Er korrigierte die Haltung von Arm, Bein, Fuß, Kopf und Rücken, wieder und wieder. Dann mußte Tiscio Atmen. Mund aus, Nase ein. Und immer wieder traktiert er ihn mit leichten hieben eines kleinen Stockes, den er neben seinem Kissen liegen gehabt hatte.
Anfangs tat Tiscio alles, was der Schrat ihm sagt. Er wollte weder Chanu noch Vilet enttäuschen. Doch nach der 10. Ermahnung merkte er langsam, wie sowohl Geist als auch Körper ermüdeten. Schließlich brach es aus ihm hervor: "Wofür ist das gut, gerade zu sitzen?" Hastig zog er eines seiner Beine aus der Reichweite des Stockes.
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war klatschte ein Hieb des Stocks dennoch gegen das Bein: "So schnell brichst du ein Versprechen."
Er merkte, wie die Wut wieder in ihm aufstieg: "Das war keine dumme Frage!" Trotzig fügte er hinzu: "Und ich breche meine Versprechen nicht."
Wieder fuhr die Rute nieder. Vilet fasst den Schrat jedoch an der Schulter und Tiscio wurde Zeuge, welche Macht die Frau über den Schrat zu haben schien. Wieder warf sie ihm nur einen Blick zu und Chanu entspannte sich ein wenig. Er zwang sich zu einer Antwort: "Du sollst meditieren, das heißt, dass du lange still sitzen wirst. Dazu muss dein Körper in der richtigen Haltung sein, da du dich ansonsten verkrampfst."
Tiscio nickte und presste die Lippen aufeinander. Es war deutlich zu sehen, dass er seine Anstrengungen wieder verdoppelte, um den Anweisungen des Alten zu folgen. Schließlich wurde jedoch allen anwesenden nur allzu deutlich bewusst, dass sich die Entspannung nicht einstellen wollte und Tiscios Frustration immer weiter wuchs. Als sein rechtes Bein zu krampfen begann, ließ er sich einfach nach hinten fallen, wo er flach auf dem Rücken liegend leise hervorstieß: "Ich kapier´s einfach nich‘. Tut mir leid."
Er spürte, wie Vilet aufstand und sich neben ihn setzte. Vorsichtig berührten Ihre Hände seinen Arm und halfen ihm hoch: "Wir machen übermorgen weiter."
Kurz sprach sie mit dem alten Priester, der ein wenig grummelte, dann aber nickte und sich mit den Worten Verabschiedete: "Ich möchten dich nur bitten, ein wenig auf deine Atmung zu achten in den nächsten Tagen."
An den hängenden Schultern war Tiscio anzusehen, wie sehr ihn diese erneute Niederlage mitnahm. Er nickte zwar zu Vilets Bitte, sie konnte aber erkennen, dass er gar nicht genau wusste, auf was er achten soll.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 02