Die Brennerbande, Teil 107


Sie waren etwas orientierungslos, als sie vier Stunden später von Kargerheim geweckt wurden.
Malandro wühlte sich aus seiner dünnen Decke, die sich zwischen seinen Beinen verknotet zu haben schien. Sein Kopf dröhnte und seine Muskeln waren steif von Kälte und den Anstrengungen der Nacht. Er reckte sich und beging den Fehler, nicht nachzudenken, bevor er mit heiserer Stimme fragte: "Ist Unterschnitt da?"
"HERR Unterschnitt dachte, ihr wollt dabei sein."
Das machte die Jungs vielleicht nicht sofort hellwach, beschleunigte jedoch ihr Aufstehen. Natürlich wussten sie, wobei sie dabei sein wollten. Sie waren so aufgeregt, dass Tiscio sogar in den Hinterhof ging, um seinen Kopf unter die Pumpe zu halten.

Nachdem, was sie in der nächsten Stunde erleben sollten, waren sie sich jedoch nicht mehr sicher, ob sie nicht hätten liegen bleiben sollen. Jegliche Rachegelüste wurden gestillt, bis zu einem Grad, der ihnen für lange Zeit die Lust auf Rache austrieb.
Hatten sie die Folter in Unterschnitts Zimmer vor noch nicht so vielen Tagen bereits grausam und beängstigend gefunden, an diesem Nachmittag konnten sie die ganze Finsternis in der Seele ihres Gastgebers sehen.
Es war nicht so, als wenn Unterschnitt sie gezwungen hätte, der Folter beizwohnen. Er wies sie sogar immer wieder darauf hin, dass sie jederzeit gehen konnten.
Aber selbst nachdem Gunnar den Schrecken nur noch mit einer Ohnmacht auszuhalten wusste, blieben sie.
Das, was am Ende von dem Mann übrig blieb, war kaum noch als Mensch zu erkennen, die Magie hatte ihm nicht nur den äußeren Anschein genommen, sondern auch sein inneres aufgewühlt.
Irgendwann während dieser Vorgänge musste sich Malandro übergeben.

Am Ende konnten sie dem Haufen aus Fleisch und Knochen einen Namen geben, Netfred, was Gunnar jedoch erst sehr viel später erfuhr. Er war zwar zwischendurch wieder aufgewacht, aber gleich wieder umgekippt.
Wichtiger als der Name war jedoch, dass er, oder zumindest ein Teil von ihm, den Ort genannt hatte, wo die Terroristen ihre Aufträge erhielten: ein Haus im Ingen, eine Wand, ein Stein, der herausgenommen werden konnte, Nachrichten, die jedes Mal verbrannt wurden, sobald sie gelesen worden waren.
Anschließend hatten sie die Überbleibsel in einen der angebrannten Teppiche aus den oberen Stockwerken gehüllt und in den Müll geschmissen.

"Soll'n wir das Haus bewachen?" Tiscio war immer noch bleich, aber aufrechter als seine Freunde.
"Nein, geh bitte Linnbeth holen." Mit einem Blick auf die anderen beiden weniger aufrechten fügte er hinzu: "Wir werden dieses Haus aufsuchen."
Malandro sog hörbar die Luft ein und sah zu Tiscio hoch, während er Gunnar aufzuhelfen versuchte. "Jetzt?"
"Ich hab alles verpasst, oder?"
"Hast Glück gehabt."
"Bin so ein Weichei."
"Ja, bist'e. Is aber nich' schlimm."
"Ihr seid nicht umgekippt."
"Ich hab gekotzt. Denk nich‘ dran." Sie sahen zu Tiscio, der ihnen zuwinkte und sich auf den Weg zu Linnbeth machte.

Die große Frau machte die Tür auf und schien wenig überrascht zu sein, erneut einen der Feldstraßler zu sehen. Es schien so, als hätte sie nur auf eine Nachricht gewartet, wie Tiscio bemerkte, noch bevor sie sich die Mühe machte, ihren bunten Schürzenkittel abzulegen. Sie fragte nicht einmal, was er wollte.
Für ein paar Herzschläge war er versucht, ihr von der Folter zu erzählen, die er mitangesehen hatte. Er fasste sich jedoch und überbrachte nur die Botschaft. Sie brauchten Linnbeth und er war sich nicht sicher, wie viel sie von der dunklen Seite ihres Bekannten - oder wie auch immer ihre Beziehung sein mochte - wusste.
Die große Frau fasste ihn an die Schultern und blicke ihn durchdringend an. Dann nickte sie: "Ich komme, aber ich muss vorher noch etwas erledigen." Womit sie Tiscio zurückschickte.

Gunnar und Malandro warteten bereits auf ihn vor dem Haus von Frau Elmaiga.
"Willst doch sicher jetzt zu Vilet, nich'?"
"Ne, keine Zeit. Geh’n bestimmt bald los. So schnell könn' wir sie nich' finden."
"Was ist, wenn wir Walde fragen?" Tiscio würdigte Gunnars Frage nur mit einem abschätzigen Kopfschütteln. Dann wurde seine Miene jedoch plötzlich weicher. "Sag mal, bist'e eigentlich erst angekommen, als die Bombe schon geplatzt war."
"Nein, ich bin noch reingelaufen. Ich habe noch deiner Mutter geholfen, Walde und deine Schwester rauszubekommen. Dann ist alles explodiert und ich bin rausgeflogen."
"Ausserdem hat'r zwei Einbrecher fertig gemacht."
"Tut mir leid, dass ich nicht schnell genug war."
Tiscio machte einen Schritt auf Gunnar zu. Für ein paar Herzschläge standen sie sich gegenüber, dann umarmte der Feldstraßler den jüngeren.
"Mann, hast meine Familie gerettet. Wirst noch 'n echter Feldstraßler."
"Groß", murmelte Gunnar in die Schulter seines Freundes und versuchte sich langsam aus der überraschten Erstarrung zu lösen. Sobald er sich ein wenig befreit hatte brachte er "Könn' wir jetzt gehen" heraus.

Weil Linnbeth noch nicht eingetroffen war, gingen sie noch einmal zu Tiscios Mutter zurück, um ihr genauer von den Ereignissen der Nacht zu berichten. Nicht zu genau, aber ausreichend, dass sie ihre Hände eine Weile nicht mehr von ihrem Mund entfernen konnte.
Als sie fertig waren, ging Tiscio noch einmal zu Walde hinüber, der ihr Leid immer noch anzusehen war. Tis setzte sich neben sie und ohne auf seine Frage zu warten, antwortete sie ihm.
"Ich bin noch traurig. Aber jetzt wird viel besser."
Tiscio wandte ihr seinen Kopf zu. Auch wenn die Trauer ihn immer noch nicht verlassen hatte und Waldes Hellsichtigkeit seine Nackenhaare aufrecht stehen ließ, musste er lächeln.
"Dreimal darfste raten, wen wa geseh'n hab'n." Malandro war über ihnen erschienen und mischte sich in ihr Gespräch ein.
"Wieso soll ich raten?"
Etwas enttäuscht schmollte der Stehende: "Du weißt es schon", woraufhin das kleine Mädchen nickte.
"Kannst du uns vielleicht weiterhelfen? Irgendwas sagen?"
"Weiß nichts."
"Komm schon Walde. Irgendwas."
"Spiel nich' mehr."
"Weiß ich doch selbst." Malandro überlegte kurz: "Aber warum sagst‘e mir das jetzt g'rade?"
"Weil'de nächst'n Monat kein Geld hast. Und du wirst verlier'n."
Und ohne ein weiteres Wort an sie zu richten begann Walde einen Kinderlied zu singen und ein paar Fäden an ihrem zerschlissenen Kleid zu einem Zopf zu flechten.

Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Linnbeth eintraf. Die Jungs hatten inzwischen von Frau Elmaiga ein paar Kanten alten Brots, eine lauwarme Brühe und etwas Wasser bekommen, einfaches Essen, dass sie jedoch mit viel Genuss verspeisten - allerdings erst, nachdem die Hausherrin sie gezwungen hatte, sich ordentlich Gesicht und Hände zu waschen.
Kargerheim, der gerade bei seinen jungen Schützlingen vorbeigesehen hatte, um sicher zu sein, dass sie bereit waren, sobald ihre Verstärkung eintraf, umarmte die große Frau mit seinem Arm aus Fleisch und Blut. Anschließend klopfte er den beiden Männern, die Linnbeth begleiteten, auf die Schultern und stellte sie als Walvolker und Allinver vor. Mehr sagte er nicht über sie, die Feldstraßler konnten jedoch sehen, dass beide etwa in dem Alter ihrer Bekannten waren und sich Mühe gaben, etwas unter ihren weiten Mänteln zu verbergen.
Auch Gunnars Vater traf wenig später ein, bepackt mit den ambarischen Handschuhn und einem seltsamen Speer, der mehrere Ausbeulungen aufwies, die anscheinend mit Flüssigkeiten gefüllt waren.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 05