Die Brennerbande, Teil 103


In einer Beziehung hatte Gunnar größeres Glück als Malandro: Gunnar hatte Walde in seiner Nähe gehabt, um ihn zu heilen.
Andererseits hatte Malandro nur eine Fleischwunde am Bein davongetragen, die Linnbeth ihm ohne viel Aufsehens mit einem Fetzen aus ihrem Hemd verbannt, nachdem sich der Staub ein wenig gelegt hatte.
Davon fühlte er sich nicht besser, aber er konnte so tun, als wenn er ein ganzer Kerl wäre, dem es leichtfiel, die Schmerzen zu ertragen. Tiscio versuchte währenddessen zu erkennen, wie schwer der Schaden an dem Gebäude war. Was er zuerst sah, war der Körper eines Bertis, der seltsam verdreht etwa zehn Schritte von ihm entfernt lag. Er war grau vom Staub, wie alles um ihn herum. Ein paar Trümmerteil so groß wie ein Wagenrad bedeckten seine linke Seite. Ohne den Raupenhelm wäre er Tiscio kaum aufgefallen. Er blickte schnell in eine andere Richtung, wo seine Augen jedoch ebenfalls nur Körper fanden. Einige bewegten sich, vermutlich stöhnten sie, Tiscios Ohren dröhnten jedoch immer noch von der Explosion.
Was er jedoch hören konnte, waren Schreie. Von überall her drangen sie zu ihm und er wusste, dass er die Verursacher nicht sehen wollte.
Dann, endlich, fanden seine Augen den Ort, wo einst der Gefängnisflügel der Hetradostei gestanden hatte, und er wunderte sich wie sie die Explosion hatten überleben können.
Von dem Gebäude war der gesamte vordere Teil in Schutt und Asche gelegt. Und wenn er genau hinsah fehlte vielleicht sogar ein ganzes Drittel des Gebäudes.
Er rannte los und versuchte die Stelle zu finden, wo sich Vilets Zelle befunden hatte. Dabei kam er an weiteren Leichen aber auch an schreienden Männern vorbei. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass einige Überlebende ebenfalls in die Richtung der Opfer eilten, er hielt jedoch erst an, als er an seinem vermuteten Ziel angelangte.
Erst suchte er die Trümmern nach irgendwelchen Anzeichen von Körpern ab, dann stürzte er sich in die Staubwolke und begann die Trümmer zu durchwühlen.
Er hatte kein System, keinen Plan, wühlte nur und stemmte einige Gesteinsbrocken zur Seite. Einmal meinte er, einen Fuß entdeckt zu haben und sein Herz setzte aus, dann konnte er jedoch sehen, dass er an einem groben, dick behaarten Bein hing und seine Erleichterung ließ ihn einen tiefen Atemzug nehmen. Später wurde ihm jedoch schlecht bei der Erinnerung an seinen Fund.
Hustend stolperte er aus den Trümmern heraus, wo ihn Malandro bereits erwartete. Tiscio lehnte sich an seinen Freund an, der ihn so lange stützte, bis jener wieder richtig zu Atem gekommen war.
Sie sahen sich an. Tis ließ seine Schultern hängen und Malandro nahm ihn an den Schultern, eine Geste, die fast eine Umarmung war. Dann starrten sie gemeinsam auf das Trümmerfeld, für den Moment zu eingeschüchtert von einer Welt, in der nichts mehr sicher war, in der alles ein Ziel von Verbrechern werden konnte.

Plötzlich bröckelte nicht weit von ihnen etwas Schutt von einem der größeren Haufen. Dann hoben sich die Reste einer ehemaligen Wand und weitere Trümmer fielen links und rechts von ihnen zur Seite. Mühsam kamen vier schmutzige Gestalten aus dem entstandenen Loch im Trümmerfeld hervor.
Malandro musste blinzeln, um ihre Umrisse genauer zu erkennen, dann gab es jedoch keine Zweifel mehr: Zuvorderst kamen ihnen zwei der drei Bertis entgegen, die vor noch nicht so langer Zeit Unterschnitt in den Flügel gefolgt waren. Danach krabbelte Gunnars Vater mühsam über den Schutt und zum Schluss kam Unterschnitt, schwankend aber aufrecht.

Die beiden Feldstraßler standen wie erstarrt und konnten ihren Blick nicht von dem Wunder lösen, dass sich ihren Augen darbot. Sie waren nicht die einzigen, aber davon bemerkten sie kaum etwas. Erst als Tiscio sich zu Malandro beugte und ihm "Magie?" ins Ohr flüsterte, war der Bann gebrochen. Mal nickte mechanisch, und, zu seiner eigenen Verwunderung, ohne die Abscheu, die er noch vor wenigen Wochen vor Magie empfunden hatte. Er wandte sich Tiscio zu, der jedoch von neuer Hoffnung beseelt erneut in den Trümmer zu suchen begonnen hatte. Malandro folgte ihm und zusammen arbeiteten sie sich langsam voran, bis Tis sich plötzlich aufrichtete, zu dem Teil des Flügels hinüberblickte, der stehengeblieben war, und die Arme hochwarf. Der kleinere Feldstraßler blickte auf und sah, wie sein Freund seine Arme hastig wieder nach unten brachte und sich umsah. Malandro warf ebenfalls einen Blick auf die Ruine, konnte jedoch nichts sehen außer zertrümmerten Wänden und Staub. Plötzlich meinte er eine Bewegung wahrzunehmen, in einer der Ecken, die im oberen Stockwerk übriggeblieben waren, wurde aber im gleichen Moment am Arm gepackt und so kräftig aus den Trümmern gezogen, dass er fast gestolpert wäre.
"Hey, Was is'n jetzt los?"
"Komm, wir müssen hier weg."
"Warum jetzt?"
Tiscio blieb stehen und zog Mal zu sich heran, um ihm ins Ohr zu flüstern:
"Vilet steht da oben. Sie hat den Finger vor'n Mund gehalten. Soll keiner wissen, dass se lebt."
Malandro drehte den Kopf zurück in die Richtung der Ruine, wurde jedoch in der Bewegung durch einen kräftigen Ruck unterbrochen. "Und was jetzt?"
Tis zog die Schultern hoch. Mal überlegte kurz und schlug dann vor:
"Dann lass uns wenigstens zu Unterschnitt geh'n. Vielleicht könn' wir was von ihm erfahren."

Sie kamen jedoch nicht bis zu ihrem Gastgeber durch, den man wie viele der Verwundeten zu einer der Mauern geführt hatte, wo er sich ausruhen und von seinen Verletzungen erholen konnte, obwohl er nicht verwundet zu sein schien. Kagerheim sorgte dafür, dass man ihn in Ruhe ließ, und kümmerte sich um die Organisation der Helfer, obwohl er selbst eine Kopfwunde davon getragen hatte. Daher entschlossen sich die beiden, dem Einarmigen ihre Hilfe anzubieten.
"Jungs. Schön. Ihr lebt."
"Wir woll'n helfen."
"Gut, dann helft beim Wegräumen." Kargerheim deutete auf den Schutthaufen, senkte jedoch den Arm, als er Malandro gähnen sah. "Oder ihr geht nach Hause und verzichtet darauf, Leichen aus dem Schutt zu ziehen. Ihr habt heute genug getan."
"Aber ..."
"Geht!"
Die beiden Feldstraßler blickten den Mann an, dann sich und verließen die Hetradostei, allerdings nur soweit, wie sie benötigten, um aus der Sicht Kargerheims zu gelangen. Malandro hielt seinen Freund auf: "Ich will sehen, was da passiert."

Die Kinder aus der Feldstrasse, 05