Die Brennerbande, Teil 102


Unterdessen setzten die Bertis ihre Suche in der Hetradostei fort. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, gesellte sich Malandro zu Tiscio und half ihm an der Mauer, ohne dass sie irgendetwas finden konnten. Von der Explosion in der Konditorgasse hatten weder sie noch jemand anderes in der Hetradostei gehört, zu viele Geräusche tönten in der aufwachenden Stadt.

Sobald die Sonne aufging wurde die Suche ein wenig leichter, besonders für Tiscio, da er die Dampflampe an seinem Kopf endlich löschen konnte. Sie war inzwischen reichlich heiß geworden.
Die beiden machten eine kurze Pause, um die Strecke zu betrachten, die sie bisher abgesucht hatten, aber auch, um sich nach den anderen umzusehen. Einige Bertis waren inzwischen ebenfalls auf dieser Seite des Flügels am Suchen, aber von den ihnen bekannten Gesichtern war keines zu sehen. Deshalb gingen sie zurück zum Vorplatz und konnten beobachten, wie Herr van der Linden seine Schnüffelmaschine an die Leine nahm. Er, Herr Unterschnitt und drei Männer von der Metrowacht sammelten sich vor dem Wächter am Eingang des Flügels, jenem Mann, der Gunnar noch vor kurzem gedankenlos mit seinem Dampfrepeater bedroht hatte.
Malandro ließ seinen Blick weiter schweifen und entdeckte Linnbeth, die sich etwas abseits hielt und sie beobachtete. Mit ein, zwei schnellen Schwenkern des Kopfes schaute er sich weiter um.
"Kannst du Gunnar seh‘n?"
"Ne, du?"
"Wo ist der bloß hin?"
Sie näherten sich der großen Frau, die ihren Blicken mit gerunzelter Stirn begegnet.
"Was seht ihr mich so an?" Es klang nicht gerade, als wollte sie sie mit offenen Armen empfangen, ihre Stimme war aber auch nicht feindselig.
"Haben Sie Gunnar gesehen?"
"Den mit dem Babyspeck? Nein, hab ich nicht." Unwillkürlich begann auch sie die Umgebung abzusuchen. "Aber er kann ja nicht weit sein."
Sie hörten, wie eine schwere Tür geöffnet wurde und sahen gerade noch, wie der letzte der Bertis hinter dem Rest der Gruppe im Flügel verschwand.
"Glauben sie, die Bombe is' drinn‘?"
"Bisher haben sie ja nichts gefunden. Wo sollte sie sonst noch sein? Vielleicht haben sie sogar schon eine Spur. Friedjofs Maschine könnte was durch die Wand gerochen haben. Wie sie da jedoch hineingekommen sein soll, weiß ich auch nicht."
Sie Schwiegen und beobachteten weiter das Gewusel der Bertis. Die beiden Feldstraßler merkten, wie sie langsam vom Schlafmangel eingeholt wurden. Als Malandro sich die Augen rieb, machte es Tiscio ihm augenblicklich nach. Mal boxte seinen größeren Freund auf die Schulter, als jener noch nicht wieder richtig sehen konnte. Tis machte nur eine verscheuchende Bewegung, als wollte er Mals Hand vertreiben. Mehr Kraft wollte er nicht aufbringen.
Dann flog der Gefängnisflügel in die Luft.

So wie seine Freunde die Explosion in der Konditorgasse nicht gehört hatten, so hörte Gunnar auch nicht die Explosion in der Hetradostei. Während seine Freunde jedoch den Knall nicht über den Lärm der Stadt hatten hören können, war Gunnars Verstand nicht klar genug, um seine Umgebung wahrzunehmen.
Er versuchte sich aufzustützen, sein rechter Arm gab jedoch unter ihm nach und er plumpste mit einem Ächzen wieder auf den harten Boden zurück. Sein Körper entschied für ihn, noch ein wenig liegen zu bleiben.
Auch tasteten seine Hände ohne das Zutun seines Denkens nach seinem schmerzenden Kopf. Es dauerte nicht lange, bis sie verharrten. Eine Stelle an der Stirn fühlte sich unnatürlich tief und feucht an. Als er die Hand vor seine Augen hielt, sah er eine seltsame Farbe an ihr kleben, die er nicht zuordnen konnte. Er wusste nur so viel, dass sie zu dunkel war. Und zu rot. Definitiv zu rot. Keine der Farben, die er normalerweise an den Händen hatte. Dunkles Braun, auch Schwarz, das hätte er verstanden. Aber doch nicht Rot.
Mühsam drehte er sich zur Seite und merkte erst durch einen Aufschrei, dass er auf dem Bein von irgendjemandem lag. Deswegen drehte er sich weiter, bis er meinte, nur noch Pflasterstein unter sich zu spüren. Sicher war er sich jedoch nicht.
Der Hinterhof, in den sie hinausgesprungen und -geschleudert worden waren, war noch dunkel in dieser Morgenstunde. Deswegen konnte Gunnar durch den Schleier, der vor seinen Augen lag, auch nicht wahrnehmen, wie sich ein weiterer Schatten in sein Sichtfeld schob. Erst als sich Waldes Hand an seine Wange legte, trennten sich die Dunkelheit des Hintergrunds und der Kopf des Mädchens voneinander. "Dir geht es gleich wieder gut", hörte er sie flüstern und meinte, ein schluchzen in ihrer Stimme wahrnehmen zu können.
Sein Blick klärte sich langsam, der Schmerz nahm ab. Das Pochen, das die ganze Zeit über dagewesen sein musste, bemerkte er erst, als es nachließ.
Sobald er sich aufrichtete, war auch der Schmerz in seinem Arm verschwunden. "Was ...?" setzte er an, aber Walde hatte sich schon neben Tiscios weinende Mutter gesetzt, die ihre Tochter im Schoß hielt und streichelte. Ihre Körper wurden von Schmerzen geschüttelt, aber kein Laut entfuhr ihren Mündern.
Und obwohl sich Gunnars Körper wieder besser anfühlte, konnte er in diesem Augenblick nicht mehr tun, als der Frau und den beiden Mädchen beim Weinen zuzusehen.
So gefangen hielt ihn der Anblick, dass er nicht bemerkte, als Soldrang rennend im Hinterhof eintraf. Erst als Gunnar das leise Zählen hinter dem schweren Atmen hörte, blickte er sich um und sah das besorgte Gesicht des Mannes, der vor kurzem noch einem Eindringling mit dem Metzgerbeil den Schädel gespalten hatte. Das Zählen endete viel zu früh und Gunnar begriff, dass sie es nicht alle lebend aus dem Haus geschafft hatten.
"Ich hole Hilfe", war alles, was der Buttler herausbrachte, bevor er wieder verschwand und nur noch das Echo seiner schnellen Schritte bei den vier Trauernden zurückließ.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 05