Die Brennerbande, Teil 66


Sie waren am Vorabend auf ihrem Weg in die Gästezimmer an der Tür vorbeigekommen. Es war ihnen jedoch nicht bewusst gewesen, dass der Raum dahinter das Zimmer war, in dem der Große Ermittler selbst sein Bett, seinen Schreibtisch und seine Notizbücher hatte. Nun wurde ihnen diese Tür von Herrn Kargerheim geöffnet. Auf den ersten Blick schien der Raum verlassen zu sein, sobald sie ihn betraten, konnten sie jedoch sehen, wie Herr Unterschnitt über seinem Sekretär lehnte und in einem großen Buch las. Das schwache Licht erforderte eine zusätzliche Lichtquelle, obwohl der Sekretär direkt vor einem Fenster stand.
Unterschnitt war allerdings nicht das erste, was auffiel, wenn man das große Zimmer betrat, denn vor allem das ausladende Himmelbett an der rechten Wand nahm den Blick gefangen. Die Feldstraßler wussten, dass sie alle zusammen bequem darin Platz gefunden hätten. Selbst mit ihren Eltern, Geschwistern und vermutlich hätten sie noch Skimir und ein paar andere hinzuholen müssen, um es wirklich auszufüllen.
Die Wände gegenüber und neben der Tür waren vollgestellt mit Regalen, die zum Teil Bücher enthielten, zum Teil aber auch Flaschen, Gläser, Kerzen und andere Gerätschaften, die für die Feldstraßler sehr nach Dingen für magische Rituale aussahen.
Unterschnitt las noch eine Weile weiter, nachdem seine Gäste das Zimmer betreten hatten und unsicher im Raum standen. Nur Kargerheim hatte sich gleich auf einen Stuhl in der Nähe des Gastgebers gesetzt, wo er in aller Ruhe wartete.
Schließlich blickte der Hexer auf und ging mit einem Zettel in der Hand zur Mitte des Raums. "Ich brauche neun große Kerzen." Kargerheim nickte Malandro zu und deutete mit dem Kopf zu einem Regalbrett. Malandro eilte hinüber und nahm zwei nachdem er den anderen zugewunken hatte, damit auch sie sich an der Arbeit beteiligten. Sie brachten die Kerzen in die Mitte des Raums, wo der Teppich weggeräumt worden war. Unterschnitt nahm jede einzeln entgegen und stellte sie in zwei Reihen auf. Dazu malte er zuerst jeweils einen Kreis aus Kreide und stellt die Kerze anschließend hinein.
Als nächstes zog er Linien zwischen allen Kerzen der Fünferreihe zu allen Kerzen der Viererreihe. "Bringt mir einen Glasbecher und die drei Flaschen aus dem Regal." Ohne hinzublicken deutete er mit der linken Hand auf ein Regalbrett, während er weiter seine Linien zog. "Und eine lange Pipette."
Kargerheim, der die Feldstraßler besser kannte als Unterschnitt, stand auf und gab Tiscio eine lange Glasröhre mit einem Gummibeutel an einem Ende.
Unterschnitt nahm zuerst den Glasbecher entgegen, anschließend ließ er sich nacheinander die drei Flaschen reichen. Gunnar hatte einen Blick auf die Etiketten geworfen. Er hatte die Schrift schon einmal gesehen, in irgendeinem Buch zu einem Thema, dass ihn am Ende wohl doch nicht interessiert hatte, denn sonst hätte er es sich gemerkt. Die Zeichen waren dennoch unleserlich für ihn.
Dafür kannte er sich mit Pipetten aus und war, anders als Tiscio, Malandro und die Ws nicht überrascht davon, wie die Flüssigkeiten nacheinander vom Unterdruck das Röhrchen hinaufgesogen wurden. Herr Unterschnitt machte einen sehr konzentrierten Eindruck während seiner Arbeit, genau wie Gunnars Vater, wenn er z.B. ein Zahnrad zurechtfeilte. Erst später ging Gunnar auf, dass dies die Beobachtung gewesen war, die ihm hatte bewusst werden lassen, dass Magier auch nur Handwerker waren - wie sein Vater, nur dass ihr Handwerk nicht ganz ungefährlich war und sehr viel Recherche erforderte.
Nachdem Unterschnitt die verschiedenfarbigen Flüssigkeiten in dem Becher mit der Pipette vermischt hatte - Gunnar hätte erwartet, dass er dafür einen Spatel oder einen Löffel nehmen würde, sog er das lange Glasröhrchen erneut voll und tröpfelte auf jedes der durch die Kreidelinien entstandene Kreuze ein paar Tropfen. Fast beiläufig reichte er Walter den Becher mit der Pipette und nickte Kargerheim zu, während er das Blatt, das er vom Schreibtisch genommen hatte in der Mitte des Musters ablegte. Kargerheim zog zuerst die schweren Vorhänge vor die Fenster und ging anschließend zur Tür, wo er mit einem Schalter die Gaszufuhr der Lampen herunterregulierte, so dass es dunkel im Zimmer wurde. Die Jungs konnten gerade noch die Umrisse Unterschnitts erkennen, nachdem sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten.
Der Hexer sprach zwei Silben, die wie "Go-Lei" klangen. Dazu machte er eine wirbelnde Handbewegung mit der rechten Hand und mit einem neunfachen Plop entzündeten sich alle Kerzen gleichzeitig. Erneut sagte Unterschnitt ein paar Zauberworte auf, die er diesmal jedoch immer und immer widerholte: "Dan-gos i ni Ue duen."
Die Feldstraßler hatten bis zu diesem Zeitpunkt ihre Erwartungen, die sie an ein magisches Ritual gestellt hätten, erfüllt gefunden. Das rezitieren dieser magischen Formel jedoch fiel etwas enttäuschend aus. Es fehlte jegliches Drama, die laute oder geflüsterte Stimme, die Anspannung, eine Veränderung in der Stimme. Stattdessen sagte Unterschnitt seinen Spruch in einem Ton daher, mit dem er auch seiner Haushälterin für das Spiegelei hätte danken können. Trotzdem zeigt die Magie Wirkung. Die Kerzen, die eigentlich einen recht teuren Eindruck gemacht hatten, hatten schnell zu rußen und qualmen begonnen. Die entstehende Wolke hatte sich jedoch über dem Muster verdichtet und nun begannen sich darin Bilder zu zeigen. Sie konnten einen Mann sehen, vielleicht dreißig, wahrscheinlich aber jünger, mit einem Koks auf dem Kopf und einem Tuch um den Hals, wie es manche Fabrikarbeiter trugen. Hemd, Jacke und Hose machten den Eindruck, auch schon bessere Tage gesehen zu haben. Sie konnten seinen Weg an einigen älteren Häusern verfolgen. Die Feldstraßler kannten die Straßen nicht, aber Kargerheim meldete sich mit einem: "Ich kenne die Gegend," zu Wort. Gerca Winrond, denn sie mussten annehmen, dass es sich um ihn handelte, verschwand schließlich in einem baufälligen Reihenhaus und ließ die Tür hinter sich zufallen. Nachdem sie noch einige Zeit lang die geschlossene Tür betrachtet hatten brache Unterschnitt den Bann, indem er Kargerheim mit lauter Stimme bat: "Wären Sie so gut, das Licht wieder zu entzünden?"
Sobald der alte Berti der Bitte nachgekommen war, bewegte Unterschnitt diesmal seine linke Hand und die Kerzen gingen aus. Ihr Rauch hing noch eine Weile in der Luft, begann sich aber schon bald im Raum zu verteilen.
Die Feldstraßler hatten mit offenen Mündern die bewegten Bilder verfolgt. Bei einigen waren diese mehr im übertragenen Sinne offen gewesen, bei anderen tatsächlich. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie Magie gesehen hatten. Soweit sie der Seelenforschung überhaupt mächtig waren, konnten sie jedoch nichts fühlen, was sich als kleiner dämonischer Schatten über sie gelegt haben könnte. Ein wenig Furcht blieb zwar, nach der Standpauke durch Kargerheim verbannten sie sie jedoch dorthin, wo sich auch die Furcht vor einer Prügelei mit den Brennern aufhielt und sie einfach ein wenig vorsichtiger werden ließ.
"Mein lieber Herr Kargerheim, sie wissen, wo sich dieses Haus befindet?"
"Ich habe eine gute Idee, wo jener Ort zu finden ist."
"Exzellent. Was schlagen sie vor, wie wir weiter vorgehen sollten?"
"Nun, ich denke, wir, damit meine ich sie und mich, werden heute genug andere Dinge zu tun haben. Daher würde ich sie jungen Leute dorthin begleiten und wieder zurückkehren."
"Ich denke, so sollten wir vorgehen."
Eine kleine Pause entstand, in die Tiscio schließlich eine Frage stellte, die ihm über Nacht entfallen war, ihm jetzt aber, seitdem sie Unterschnitts Zimmer betreten hatten, auf der Zunge brannte: "Herr Unterschnitt? Entschuldigen sie, aber wir müssen noch Vilets Freunde warnen."
Unterschnitt musterte ihn ohne eine Miene zu verziehen, so dass Tiscio abwechselnd heiß und kalt wurde. Aber dann lächelte er und pflichtete ihm bei: "Richtig. Das hatten wir gestern Abend beschlossen. Aber, wenn ich mich recht erinnere, benötigen wir dafür noch eine Liste ihrer Anhänger."
Tiscio nickt. "Herr, meine Mutter wird mir dabei helfen."
"Und unsere Schwester," warf Walter ein.
"War..." aber dann lief Tiscio ein Schauer den Rücken herunter, als er begriff, warum Walde ihnen vermutlich mehr Namen sagen konnte, als seine Mutter und er zusammen kannten. Walter und er hielten grimmig ihre Blicke, bis Herr Kargerheim daran ging, sie hinauszuschmeißen: "Dann wollen wir uns an die Arbeit machen, Jungs."

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03