Die Brennerbande, Teil 59


Die Begegnung mit dem Boten ließ die Feldstraßler geschockt zurück. Er verließ die Gruppe auf dem selben Weg, den er gekommen war, allerdings nicht bevor er ihnen noch ein wenig mehr Angst gemacht hatte. "Achtet auf die Ritter. Ihr wisst, dass Sie etwas damit zu tun haben."
Erst die Priester, dann die Ritter. Vielleicht war es ein Glück, dass der Engel weg war. Sonst hätte er vielleicht noch mehr Parteien genannt.
Aber nicht alles, war schlecht gewesen. Sozusagen als Abschiedsgeschenk hatte er ihnen eine kleine Holzpfeife gegeben, mit der Anweisung, sie nur zu verwenden, wenn sie in wirklich ernstzunehmende Schwierigkeiten gerieten.

Da es schon so spät gewesen war, hatte Tiscio bei den Ws übernachtet. Wäre er nach Hause gegangen, hätte er vielleicht noch eine Stunde schlafen können, bevor er seinen Rückweg zur Feldstraße hätte antreten müssen. Die Abmachung mit Walde stand und Tiscio war sich sicher, dass es keine gute Idee war, eine Abmachung mit ihr zu brechen.
Deshalb stand er nun wieder im Eingang des Schulgebäudes, das er so sehr gehofft hatte, nie wieder sehen zu müssen. Auch die Schule in der Oberen Altstadt mochte er nicht. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, wie sehr er diese Schule verabscheute. Es dauert auch nicht lange, bis ihn seine alte Lehrerin mit einem hämischen Lächeln begrüßte: "Tiscio Canil, hat es dich wieder zurück in deine alte Heimat verschlagen?" Was ihr Lächeln jedoch sagte, war: "Hast du wieder irgendetwas angestellt, dass sie dich da nicht behalten haben?" und Tiscio wusste es. Es half nicht, dass er nur für Walde hier war. Es verletzte ihn trotzdem und er ballte unwillkürlich die Hände zusammen.
"Bin nur für Walde da."
Sie nickte nur und begann den Unterricht. Es war genauso erniedrigend, wie vor vier Monaten, als er noch aus anderen Gründen hier hatte sitzen müssen.
Tiscio merkte jedoch auch schnell, dass die Lehrerin Walde mied. Sie vermied nicht nur, ihr Fragen zu stellen. Sie vermied sogar sie überhaupt anzublicken. Walde war ihr unheimlich. Die anderen Kinder hingegen warfen ihr immer wieder kurze Blicke zu. Auch sie hatten Angst. Aber anders als die Lehrerin würden sie ihre Angst immer wieder an ihr auslassen. Bisher hatte Walde vermutlich einfach Glück gehabt, dass ihr nichts Schlimmeres passiert war.
Nachdem Tiscio seinerseits den Blicken der Lehrerin ausgewichen war läutete, von allen heiß ersehnt, die Pausenglocke. Walde, und damit auch Tiscio, wartete, bis alle anderen den Raum verlassen hatten, um schließlich ebenfalls auf die Straße zu gehen, wo die Kinder die Pause über unbeaufsichtigt spielen konnten. Oder auch einander terrorisieren. Tiscio hielt sich im Hintergrund. Walde zog sich in eine Hausecke zurück, um dort ihre trockene Stulle zu essen. Es dauerte nicht lange, bis fünf ältere Kinder zu ihr hinübergingen. Er konnte nicht hören, was sie zu ihr sagten, aber sie wirkten genau wie alle Kinder, die sich einen Spaß daraus machten, kleinere so lange zu ärgern und zu terrorisieren, bis sie einen Grund fanden, mehr zu tun.
Fünf gegen einen war, selbst für einen bekannten Schläger wie Tiscio, kein günstiges Verhältnis. Aber er kannte die Kinder und sie kannten ihn. Sie wussten, dass er die anderen Feldstraßler hinter sich hatte. So leise, wie er konnte, schlich er sich an sie heran. Nicht, dass man ihn über den Lärm der Stadt gehört hätte. Nachdem er sich zweien auf die Schultern gestützt hatte dauerte es nicht lange, sie davon zu überzeugen, dass, wie Kargerheim es vielleicht ausdrücken würde, alle ihre weiteren Aktion nur zu ihrem Nachteil gereichen würden. Er war sich nicht sicher, wie lange diese Einschüchterung vorhalten würde, aber fürs erste würden sie Walde wohl in Ruhe lassen. Nur, dass sie sie ihm gegenüber als Hexe und Teufelsdienerin bezeichneten, machte ihn nachdenklich.
Auf dem Weg zurück in die Feldstraße schwiegen die beiden, bis sie die Schule nicht mehr sehen konnten.
"Walde, ich glaube, du musst damit aufhören, den anderen zu sagen, was passieren wird."
"Aber ich kann doch nichts dafür."
"Aber du sagst es ihnen doch. Das macht ihnen Angst."
"Ich will ihnen aber doch gar keine Angst machen. Warum sollten sie Angst haben. Ich tue ihnen doch gar nichts."
"Doch. Keiner kann in die Zukunft sehen. Das ist nicht normal. Sie nennen dich Hexe. Hexen verbrennt man. Walde! Du darfst das nicht mehr machen."
Walde blickte auf ihre Füße und schwieg, während sie weitergingen. Schließlich blickte sie jedoch zu Tiscio hoch und nickte mit zusammengepressten Lippen.

Die Feldstraßler trafen sich abends an ihrem örtlichen Tempel, Trengin von den sieben Sonnen. Trengin war einer der frühen hetradonidischen Propheten gewesen, der bei dem Versuch die gnemiarischen Heiden zu bekehren gepfählt worden war. Anschließend hatte man ihm den Kopf abgeschlagen und seine Innereien mit Gold ausgegossen. Es waren diese Kleinigkeiten, die die Herzen der kleinen Kinder erwärmten und sie zum Glauben führte. Eine Statue des Heiligen, mit dem Kopf in den Händen und dem Gold aus dem Mund quellend, stand direkt neben dem Altar. Die meisten Kinder gewöhnten sich ziemlich schnell an den Anblick. Walde jedoch hatte sie nicht eines Blickes gewürdigt.
Malandro hatte den anderen mal erzählt, dass Trengin seinen Beinamen von den sieben Sonnen hatte, die er aufgespießt auf dem Pfahl noch hatte aufgehen sehen.
Die fünf saßen in zwei Bänken möglichst weit weg von Trengin und stritten sich.
"Wir haben doch nichts zu verlieren!"
"Deinetwegen schlagen wir uns die Abende auf der Straße um die Ohren. Ich gehe nich auch noch in den Knast wegen dir."
"Wer sagt denn, dass wir in den Knast gehen?"
"Die haben Vilet schon. Was glaubst du denn was sie mit uns machen?"
"Ich will doch nur unseren Priester fragen?"
"Vater Vollip? So lange bist du doch noch gar nicht wech?"
"Vollip, der Vorkoster! Vollip, der Verbieger!"
"Gut! Er ist nicht so nett. Gebs ja zu. Hast du einen besseren Vorschlag?"
"Wir gehen zu Kargerheim."
"Warn wir doch grade."
"Hast doch selbst gesagt, dass er gesagt hat, wir sollen wiederkommen, wenn wir was wissen. Und wir wissen was."
"Der Engel? Was willste denn sagen? N Engel is uns erschienen und hat uns die Wahrheit verkündet? Dann können wir auch erst noch Vater Vollip fragen."
"Einmal, nur einmal, könntest du ja auch nachgeben."
Es war kein Argument. Aber Tiscio konnte wenig dagegen einwenden. Er hatte seine Freunde auf der Suche nach Vilet durch die Gegend gezerrt. Und jetzt wollten sie helfen und er stellte auf Stur.
In diesem Moment betrat Vater Vollip den Tempel und ohne zu Zögern verließen die Feldstraßler den Raum durch den Haupteingang.

Wie zu erwarten gewesen war, öffnete ihnen der Buttlertyp die Tür und wies sie ab. Zu ihrer Überraschung sagte er ihnen aber, wo sie Kargerheim finden könnten.
"Der Herr Kargerheim ist bereits nach Hause gegangen. Er ist wohnhaft in der Meergoldstraße 17."
Also machten sie sich auf in die Meergoldstraße. Meergoldstraße klang wichtiger, als es die Straße tatsächlich war. Sie ging von der Werkmanns Allee ab, die sich als Hauptader durch die Gerberreihen und zwischen der Schetach und dem Hafen zog. Während jedoch die Konditorgasse nahe der Schetach lag, ging die Meergoldstraße fast parallel zur alten Stadtmauer womit sie sehr nahe dem Ingenfeld war. Anders als die Feldstraße, die die Neustadt in das Feld übergehen ließ, war der Bruch zwischen den Gerberreihen und dem Bezirk jenseits der Mauer abrupt. Gewiss die Häuser der Innenstadt nahe der Mauer waren nicht so fein wie die Häuser weiter in Richtung Hafen, und die Häuser direkt auf der anderen Seite besser als weiter im Ingen. Aber die Ingenhäuser wurden nicht gepflegt wie die der Gerberreihen, die Farbe wurde seltener erneuert. Fensterscheiben blieben länger unersetzt. Und die Menschen waren einfach schmutziger.
Kargerheim bewohnte ein kleines Haus, ein Neubau aus der Zeit, als das Gerberviertel, vom Slum der Innenstadt in eine der angenehmsten Wohngegenden Xpochs umgewandelt worden war. Seine Frau öffnete ihnen. Sie war eine etwas rundliche, langsame Person mit einem freundlichen Gesicht und einem noch freundlicherem Lächeln. Sie sah die Jungs mit schiefgelegtem Kopf an, als ob sie überlegen würde, ob sie sie kennen müsste. Dann fragte sie mit einer kräftigen aber gütigen Stimme: "Seit ihr die Jungs, die meinem Herlin geholfen haben? Kommt doch rein." Sie machte ihnen den Weg frei und wies sie in das kleine Wohnzimmer, wo ihr Mann an einem kleinen Kamin saß. Das Zimmer war nichts im Vergleich zu dem Unterschnitts, aber um Welten besser als alles, was die Feldstraßler sonst kannten. Es war eigentlich zu klein für das Ehepaar und die Freunde zusammen, aber Kargerheim rückte seinen Sessel zur Seite und holte ein paar Stühle aus der Küche, wo sich seine Ehefrau betätigte. Tortzdem mussten Gunnar, Walmo und Tiscio auf dem Boden sitzen.
In seinem eigenen Heim wirkte Kargerheim kaum noch wie ein Berti. Vermutlich war es das kleine Lächeln, das immer über sein Gesicht huschte, wenn seine Frau hereinkam. Oder es war der unbesorgtere Umgang mit seinem fehlenden Arm. Vielleicht war es aber auch einfach, dass er sich zu freuen schien, sie seiner Frau vorstellen zu können.
"Und was führt euch heute zu mir? Vermute ich richtig, dass ihr etwas herausgefunden habt?" Aber wie es schien, konnte er nicht ganz aus seiner Haut.
Malandro, der ihm gegenüber saß, begann mit dem Bericht: "Herr Kargerheim. es klingt bestimmt, als wenn wir ihnen quatsch erzählen wollten, aber es ist wirklich wahr." Er stockte. Tiscio nahm den Faden auf: "Wir waren im Wald und sind einem Engel begegnet." Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion. Als diese ausblieb, übernahm Malandro wieder: "Er hatte Flügel und hat so alt dahergequatscht. Aber er sagte, dass er der Bote is, der Vilet zur Frühlingskönigin gemacht hat, oder so ähnlich." Nun sah Kargerheim skeptisch in die Runde. "Und der Flügel wegen haltet ihr ihn für einen Engel?"
"Er wusste alles. Und er hat gesagt, dass die Priester sie eingelocht haben."
"Nehmen wir mal an, euer Engel hat wirklich Recht gehabt, und ich sage nicht, dass dem so ist, dann wäre dies eine wirklich ernste Angelegenheit."
"Aber die Kirche verbrennt doch niemanden mehr," warf Gunnar ein.
"Das Recht des Königs erlaubt ihnen jedoch, jeden, der der Häresie bezichtigt wird, auf unbestimmte Zeit festzusetzen und zu befragen, wenn es eine staatliche Order gibt. Ohne diese ist es ihnen immerhin einen Tag erlaubt."
"Aber wer sollte sie denn anzeigen?"
"Ihr habt mir doch erzählt, dass sie sich als Priesterin einer anderen Gottheit betrachtet und bereits Gläubige um sich gesammelt hat. Das ist nicht viel, und andere tun dies ebenfalls. Aber es bedarf nur eines übereifrigen Gläubigen, um eine Anzeige zu stellen. Sollte es so sein, wie euer neuer Freund gesagt hat..."
"Möchte jemand ein wenig Hartkuchen?" Frau Kargerheim war hereingekommen und trug ein Tablett mit einem Teller voller kleiner, eckiger Kuchen und sieben einfacher Tassen, die, dem Geruch nach, mit warmem Panas gefüllt waren.
"Danke, mein Goldstück." Nachdem sie ihre Last verteilt hatte, nahm sie auf dem zweiten Sessel Platz. "Unterhaltet ihr euch gut?"
"Ja, mein Goldstück. Die Jungs haben mir gerade erzählt, dass sie meinen, einen Engel gesehen zu haben. Ich hab dir doch erzählt, dass eine Freundin von ihnen entführt wurde. Und es macht den Eindruck, dass sie im Tempel verhört wird."
"Das ist ja schrecklich. Kannst du da was tun?"
"Nein, leider nicht. Die Metrowacht hat dort keinen Einfluss und damit kann ich auch niemanden fragen." Er wandte sich wieder den Feldstraßlern zu: "Ich würde euch empfehlen, zur Metrowacht zu gehen, und dort eine Vermisstenanzeige zu stellen. Am besten dort, wo sie auch gemeldet ist. Vielleicht können Sie euch sogar sagen, ob Anzeige erstattet wurde, denn die gehen normalerweise nicht bei der Tempelwacht ein, sondern bei meinen ehemaligen Kollegen." Während er sprach schlürften die Jugendlichen mehr oder weniger geräuschvoll an ihren Panas und hatten in kürzester Zeit den Hartkuchen verspeist.
"Soll ich noch ein wenig Gebäck holen, Schnuckel?" Frau Kargerheim hatte sich bereits halb erhoben, bevor ihr Mann antworten konnte. Er lächelte sie an und nickte knapp. Gerade als sie die Stubentür erreicht hatte, klopfte es an der Haustür. "ich komme schon," rief sie und Kargerheim blieb entspannt sitzen. Wenig später kam sie jedoch mit besorgter Miene zurück. "Ein Junge steht an der Tür. Er sagt, er hat eine Botschaft von Herrn Unterschnitt und dass es dringend sei."
Blitzartig war alle Entspanntheit aus Kargerheims Körper verschwunden. Er erhob sich und ging zur Tür ohne die Jungs anzublicken. Sie hörten ihn an der Tür mit der gewohnten Autorität sprechen, während von dem Boten nichts zu hören war.
Als er zurückkam war sein Gesicht bleich und seine Mundwinkel angespannt. Er knüllte ein Stück Papier in seine Hosentasche.
"Entschuldigt mich, ich hätte gerne weiter mit euch gesprochen. Aber es ist etwas geschehen, dass erfordert, dass ich mich mit Herrn Unterschnitt treffe."
Er verließ den Raum erneut und ging in das erste Stockwerk. Inzwischen leistete ihnen seine Frau Gesellschaft. "Es tut mir Leid, dass ihr schon gehen müsst. Mein Mann hat so viel von euch erzählt. Ich hatte gehofft, dass wir uns noch etwas hätten unterhalten können. Aber kommt doch bald wieder." Während sie ihnen noch an der Tür die Hände schüttelte, kam Kargerheim die Treppe wieder herunter. Er war gerade dabei, seinen Arm anzulegen. Frau Kargerheim ging um ihn herum und half ihm beim Befestigen der Schnallen.
"Was ist denn passiert, Herr Kargerheim?" Gunnar sprach die Frage aus, die allen auf den Lippen brannte.
"Ich sollte es euch vermutlich nicht sagen, aber morgen werdet ihr es sowieso erfahren: Es gab einen weiteren Anschlag. Jemand hat mit giftigen Gasen in der Universität mehrere Menschen getötet."

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03