Die Brennerbande, Teil 84


Nach dem Rauswurf aus dem Hai blieb den Feldstraßlern nicht viel anderes zu tun, als endlich heimzugehen. Sie schlappten den Weg mehr als das sie ihn gingen. Die Tür wurde ihnen geöffnet, bevor sie noch zum zweiten Mal klopfen konnten.
Man fragte sich, wann Soldrang eigentlich schlief. Seine Kleidung wirkte nicht ordentlicher als zuvor, er hielt sich jedoch genauso aufrecht wie immer.
"Herr Unterschnitt bat mich darum, die jungen Herren auf sein Zimmer zu schicken, sobald sie wieder im Haus seien." Der Buttler deutete die Treppe hoch zur Tür ihres Gastgebers.
Als sie begannen, die Treppe hochzuschlurfen, fügte er hinzu: "Seien sie bitte so gut und ziehen die Schuhe aus." Murrend kamen die Feldstraßler wieder zur Garderobe zurück und zogen nicht nur ihre Schuhe aus, sondern ließen auch ihre Jacken, Kappen und den Schnüffler zurück.

"Danke." Herr Unterschnitt sah sehr blass und verschlafen aus, als sie ihn in seinem Zimmer aufsuchten. Er nahm Derichs Notizbuch entgegen und blätterte darin herum. Die Jungs hatten die letzte Stunde nicht mehr an ihren ursprünglichen Auftrag gedacht und Tiscio hatte noch einmal zurück zu seiner Jacke laufen müssen, um das Buch zu holen.
"Das könnte wirklich helfen. Und nun erzählt, was euch aufgehalten hat. Ich hörte eine Explosion. Gehe ich recht in der Annahme, dass es einen weiteren Anschlag gegeben hat."
Die Jungs nickten.
"Dann erzählt bitte, was ihr gesehen habt."
Und das taten sie. Herr Unterschnitt unterbrach sie nur selten, denn er hatte gelernt, dass die Feldstraßler sich über die Zeit immer weiter ergänzten, wenn man sie nur sprechen ließ.
"Und ihr habt den Geruch aufgenommen?"
"Ja, Herr Unterschnitt. Kann aber sein, dass es der falsche is'. Da war soviel ..." Tiscio stockte und blickte zu Gunnar, der sich abwandte.
"Ich verstehe." Unterschnitt machte eine wegwischende Bewegung mit der rechten Hand. Dabei drehte er den Jungs seine verwundete Gesichtshälfte zu, die mit einem dicken Verband abgedeckt war. Der rot-braune Fleck auf dem weißen Leinen war ein deutliches Zeichen dafür, dass die Wunde nicht schnell verheilen würde.
"Das habt ihr sehr gut gemacht. Danke."
"Herr Unterschnitt, was is' mit Malandro?"
"Er ist sicher bei der Metrowacht. Ich hoffe nur, dass sie ihn dort schlafen lassen. Und auch ich muss jetzt schlafen gehen. Auf auf. lasst mich allein." Diesmal wedelte er mit beiden Händen, als wollte er sie fortscheuchen.

Die Hetradoniden verzichteten ab elf Uhr auf das Schlagen des Gongs. Es war ein langer Kampf zwischen der Stadt und dem Tempel gewesen, bis der König eingeschritten war, um seinem Volk ein paar Stunden Nachtruhe zu verschaffen. Erst um vier Uhr begannen die Gongschläge aufs Neue und die Feldstraßler überhörten sie fast jeden Tag. Sie überhörten auch die weiteren Gongs an diesem Morgen. Es war schließlich Walter, der sie weckte, als er hochschreckte und fluchte.
"Grubenschleim, wir haben das Spiel verpasst."
Tiscio war der erste, der in seinem Schlafumwölkten Zustand ein Wort äußern konnte: "Was?"
"Das Spiel! Galgenberg gegen Gräberfeld!"
Es dauerte ein wenig, bis die anderen die Worte verdaut hatten.
"Grütze. Das fällt dir jetzt ein?"
"Mirkan hatte versprochen, seinen Rekord zu brechen."
"Mirkan is' der beste." sagte Walmo, noch halb im Schlaf.
"Klaup war besser."
"Stimmt nich'."
"Stimmt doch."
"Mein Vater wollte mit mir hingehen."
Die Feldstraßler schwiegen. Keiner ihrer Väter ging jemals mit ihnen irgendwohin, wenn sie überhaupt noch einen Vater hatten.
"Hätte aber sowieso nicht geklappt." Gunnar richtete sich aus dem Bett auf. Er wankte ein wenig vor Müdigkeit.
"Was soll'n das heißen?"
"Habt ihr nicht die Zettel gesehen?"
"Welche Zettel?"
"An den Laternen."
"Nö. Hab nich drauf geachtet, ihr?" Tiscio blickte in die Runde. Alle schüttelten den Kopf.
"Sag schon."
"Das Marqin-Spiel ist verschoben." Gunnar gähnte, "manchmal frage ich mich, was ihr den Tag lang mit euren Augen tut." Es überraschte ihn, dass keiner seiner Freunde ihn auf seine Matte warf oder ihm gegen die Schulter schlug. Erst als ihn ein Kissen traf, begriff er, dass sie einfach noch zu müde waren.

Die Gongs der Tempel wurden sieben Mal geschlagen, überall in der Stadt. Einige langsame konnte man noch lange nachklingen hören. Die Feldstraßler wären wohl trotzdem weiter in ihrem Zimmer geblieben, wenn nicht Walde geklopft hätte.
"Ihr müsst zur Schule", rief sie durch die Tür. Walter stand auf und ließ seine Schwester hinein. Es war vielleicht nicht angemessen, ein Mädchen zu ihnen hineinzulassen, halbnackt wie sie waren, aber sie sah sie schließlich nicht zum ersten Mal so.
"Psst. Nicht so laut!"
"Ihr müsst aber zur Schule."
"Weißt du, wann wir gestern in die Kiste gekommen sind?"
"Das is' doch nich' wichtig, Walter." Walde sah ihren Bruder mit einem ernsten Blick an. "Wichtig is' jetzt nur, dass ihr in die Schule müsst."
"Walde! Is' das wieder so'n ding, dass du gesehen hast."
"Ich weiß es halt."
"Lass sie, Walter, hat doch keinen Sinn."
Walter setzte sich auf seine Matte und schmollte.
"Warum Walde? Warum musst du uns um diese Zeit wecken?"
"Aber ihr wart doch schon wach. Ich hab euch gehört."
"Aber warum müssen wir denn?", warf Walmo ein, "heut is doch keine Schule?"
"Du doch nich'." Sie deutete auf Gunnar und Tiscio. Letzterer vergrub seinen Kopf in den Händen.
"Wir kommen doch total zu spät?"
"Was meinst du, Tiscio? Haben wir eine Wahl?"
Tiscio schüttelte den Kopf.

Während sie sich anzogen, kam Malandro zurück. Er wirkte übermüdet, aber zufrieden.
"Ha'm se dich gleich da behalten, alter Schlossknacker?"
"Mhm, ja, konnte in 'ner Zelle schlafen."
"Was hast'e denn gemacht."
"Die haben 'nen Typen kommen lassen, der richtig gut Malen konnte. Dem habe ich den Mützenmann beschrieben. Hat ewig gedauert."
"'tschuldige Malandro, aber Gunnar und ich müss'n los."
"Was'n los?"
"Walde ..."
"Schon gut, will's gar nich' wissen."
"Am besten erzählst du es Unterschnitt", sagte Gunnar, "vielleicht kannst du ihm Rotmütze auch beschreiben." Malandro nickte ihnen zu und ging ihnen bis zu Unterschnitts Tür nach. Bevor er klopfen konnte, rief Tiscio erstaunt von der Garderobe: "Der Schnüffler is' weg." Er brüllte fast, als er nach dem Buttler rief: "Herr Soldrang!" Fast augenblicklich erschien der große Mann an der Treppe zur Küche. "Herr Canil, es ist nicht notwendig, die Stimme zu erheben. Meine Ohren sind sehr gut."
"Herr Soldrang, wo ist der Schüffler."
"Meinen sie die große Dampfmaschine, die unter der Garderobe im Weg stand?" Er wartete nicht auf eine Antwort. "Herr Unterschnitt hat mit diesem Gerät heute vor dem ersten Gong das Haus verlassen. Kann ich noch etwas anderes für die jungen Herren tun?"

Die Kinder aus der Feldstrasse, 04